75 Prozent weniger Insekten in Teilen Deutschlands
Eine aktuelle Studie sorgt für Schlagzeilen: In 27 Jahren ist der Bestand der Insekten in Teilen Deutschlands um mehr als drei Viertel gesunken. Ursache für den dramatischen Insektenrückgang ist den Autoren zufolge die Hochleistungslandwirtschaft – die damit im Widerspruch zu bestimmten bioökonomischen Prinzipien steht: dem nachhaltigen Anbau von Biomasse und der Sicherung der Ernährung.
Über die möglichen Folgen des Insektensterbens für die Natur und den Menschen und den notwendigen Wandel in der Landwirtschaft sprach BIOPRO mit Alexandra-Maria Klein, Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Klein untersucht unter anderem, wie die Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren die Ökosystemfunktionen beeinflusst und welche Auswirkungen der Verlust der Artenvielfalt für uns Menschen hat.
In den Medien ist überall vom großen Insektensterben zu lesen – ist das Panikmache oder Realität?
Alexandra-Maria Klein, Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie
© Felix Fornoff
Das mediale Interesse basiert auf einer konkreten Studie des Entomologischen Vereins Krefeld (1). Die Mitglieder haben 27 Jahre lang an mehr als 60 Standorten in Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg Fluginsekten gefangen und gewogen. Die Auswertung zeigt, dass die jährlich gesammelte Masse an Insekten in diesen Jahren um mehr als 75 Prozent abgenommen hat.
Die Studie hat gleich mehrere Besonderheiten: Die Feldarbeit wurde nicht von Wissenschaftlern durchgeführt, sondern von Hobbyentomologen. Deren Ziel war es anfangs sicherlich nicht, das Insektensterben zu dokumentieren, sondern nach seltenen Arten zu schauen. Die Studie weist zwar einige methodische Mängel auf – so wurden manche Fallen nicht jedes Jahr an der gleichen Stelle beprobt – aber an der Auswertung der Daten waren renommierte Wissenschaftler beteiligt, die diese Probleme statistisch ausgeglichen haben. Die Datenmenge und die Zeitdauer der Untersuchung sind beeindruckend und die Ergebnisse alarmierend.
Das Insektensterben ist also Realität, zumal die Ergebnisse anderer Studien ebenfalls auf einen beträchtlichen Insektenschwund hindeuten und wir ja alle selbst einen Unterschied zu früher merken: Die Windschutzscheiben bleiben im Sommer fast sauber.
Welche Gründe hat das Insektensterben?
Bei der Krefelder Studie fällt auf, dass einige Schutzgebiete rundum von Ackerflächen umgeben sind. Man kann sich kleine Inseln in einem Meer von Getreidefeldern vorstellen. Die Autoren zeigen, dass vor allem die Zunahme der Ackerfläche in der näheren Umgebung und Stickstoff, also die intensive Landnutzung, mit dem Insektenrückgang korreliert sind. Auch aus eigenen Studien wissen wir, dass in intensiv genutzten und ausgeräumten Agrarlandschaften viel weniger und auch andere Insektenarten zu finden sind als in Agrarlandschaften mit viel Gehölzstruktur und blühenden Pflanzen.
Was ist mit dem Einsatz von Insektiziden?
Darüber lässt sich aus den Daten der Krefelder Studie nichts ablesen. Generell wurden bereits einige Studien zu Insektiziden, vor allem Neonicotinoiden, durchgeführt. Das Bild ist uneinheitlich. Es zeigen sich unterschiedliche Auswirkungen, die biologisch oft noch nicht erklärt werden können. Weiter ist unbekannt, wie sich eine Mischung aus Pestiziden auf Insekten auswirkt. Hier ist dringend weitere Forschung unter realen Feldbedingungen notwendig.
Spielt der Klimawandel eine Rolle?
Die Autoren konnten keinen Zusammenhang finden.
Welche Auswirkungen hat das Insektensterben?
Insekten stehen an der Basis eines Ökosystems: Sie dienen anderen Tieren als Futter, etwa Fischen, Fröschen und Vögeln. Fehlen Insekten, werden auch die Wirbeltiere weniger, die sich von ihnen ernähren. Bei Vögeln ist ein Rückgang bereits dokumentiert. Indirekt sichern Insekten auch unsere Ernährung: Zum einen spielen sie eine wichtige Rolle bei der biologischen Schädlingsbekämpfung, denn Nützlinge regulieren Schädlinge. In der konventionellen Landwirtschaft ist das Gleichgewicht allerdings schon lange verschoben, das heißt, es gibt mehr Schädlinge, die wiederum mit Insektiziden bekämpft werden müssen. Diese Insektizide töten auch Nützlinge. Und Insekten bestäuben natürlich eine Vielzahl unserer Kulturpflanzen wie Erdbeeren, Apfel- und Kirschbäume, Sonnenblumen, Möhren und viele Rapssorten.
Dunkle Erdhummel an Sonnenhut. Die Hummelart wird auch im Treibhausanbau zur Bestäubung von Tomaten eingesetzt.
© Juliette Irmer
Auch Schmetterlinge wie der Zitronenfalter gehören zu den Bestäubern.
© Alexandra-Maria Klein
Was passiert, wenn nichts passiert?
Unsere Ökosysteme verarmen. Das heißt, die Artenvielfalt nimmt ab, sowohl bei Tieren als auch bei Pflanzen. Statt blühender, bunter Sommerwiesen existieren irgendwann nur noch grüne Graswiesen, da auch der größte Teil der Blütenpflanzen von der Bestäubung durch Insekten abhängig ist.
Auch die Obst- und Gemüseproduktion würde sinken. Aber der Mensch ist erfinderisch: Vielleicht gelingt es ihm, Apfelbäume zu züchten, die nicht mehr durch Insekten bestäubt werden müssen oder Minidrohnen zu bauen, die die Bestäubung erledigen. Das wird allerdings Zeit kosten und teuer sein.
Ein Honigbienenvolk besteht im Frühling aus ungefähr 40.000 Bienen – sie sind alle hungrig und bestäuben nebenbei unsere Obst- und Gemüsekulturen – mithilfe all der anderen Wildinsekten wie Hummeln, Fliegen und Schmetterlingen. Das ist die natürlichste und nachhaltigste Form der Bestäubung und sie bewährt sich seit Jahrtausenden.
Der Wert, den Insekten durch das Bestäuben erbringen, wurde in mehreren Studien beziffert. Wozu dient das?
Der ökonomische Wert von bestäubenden Insekten wurde für die globale Landwirtschaft pro Jahr auf ca. 153 Milliarden Euro geschätzt, für Deutschland auf 1,6 Milliarden (2). Die Bestäubung zählt zu den sogenannten Ökosystemleistungen – Leistungen der Natur, in diesem Fall der Insekten, von denen der Mensch profitiert. Das Berechnen des entsprechenden Geldwerts veranschaulicht, welche wirtschaftliche Bedeutung diese Leistungen haben, denn Menschen verstehen Zahlen. Ökosystemleistungen sind generell schwer zu quantifizieren – für die Bestäubung ist man etwa von Worst-Case-Szenarien ausgegangen – aber die Schätzungen sind wichtig, denn sie geben uns einen Richtwert. Letztlich geht es darum, Ökosystemleistungen nicht länger für selbstverständlich zu halten, sondern sie zu berücksichtigen, um eine nachhaltige Nutzung der Natur zu gewährleisten.
Allerdings finden viele Naturliebhaber zu Recht, dass Arten um ihrer selbst willen geschützt werden sollten – also nicht nur dann, wenn sie uns Menschen einen Nutzen bringen.
Wie kann man das Insektensterben aufhalten?
Hecken an Apfelplantagen am Bodensee.
© Vivien von Königslöw
Auf intensiv bewirtschafteten Ackerflächen finden Insekten keine Nahrung und keinen Schutz. Unkräuter fehlen, die Feldränder sind schmal, Hecken kaum mehr vorhanden. Wir können die Uhr nicht 100 Jahre zurückdrehen, aber wir können Monokulturen und Stickstoffeintrag reduzieren, Hecken anbauen und insgesamt eine kleinteiligere Landwirtschaft mit sogenannten Polykulturen und zum Beispiel Agroforst-Systemen fördern. Dabei wird landwirtschaftliche Produktion mit dem Anbau von Bäumen und Sträuchern auf der gleichen Fläche kombiniert. Zum Beispiel lässt man Walnuss- oder Obstbäume auf Weizenfeldern oder Weiden wachsen. Die kleinteilige Landwirtschaft Baden-Württembergs ist auf einem ganz guten Weg. Wir arbeiten zum Beispiel auf einer Fläche eines Landwirtes, der an seine Apfelbäume Hecken pflanzt, die jährlich geschnitten werden. Mit diesen Hackschnitzeln heizen mehrere Familien im Winter ihre Häuser.
Sollte man nicht auch den Einsatz von Insektiziden reduzieren?
Natürlich wäre es notwendig, Pflanzenschutzmittel nur ganz gezielt einzusetzen und nicht vorbeugend. Wir sollten Landwirte aber nicht an den Pranger stellen. In den großen Monokulturen ist es schwierig auf Pflanzenschutzmitteln zu verzichten. Weiter kann ein Landwirt nicht immer das Risiko eingehen, eine Ernte zu verlieren, weil er beispielsweise bei Ankündigung von Regen auf die Spritzung eines Fungizids verzichtet hat. Selbst im Bioanbau sind manche Substanzen erlaubt. Wir können nicht einfach den Einsatz von Insektiziden verbieten ohne Alternativen anzubieten.
Wie kann man Ihre Lösungsvorschläge zügig umsetzen?
Die Agrarpolitik muss direkt reagieren und Landwirte bei der Umsetzung insektenfreundlicher Maßnahmen wie etwa dem Pflanzen von Hecken unterstützen. Momentan existieren viele Schwarz-Weiß-Regelungen: Entweder ist man konventioneller Landwirt oder Biobauer. Wünschenswert wären Zwischenstufen. Dies wird mit dem integrierten Landbau versucht. Auf die Ergebnisse weiterer Forschung, die zweifellos notwendig ist, sollten wir nicht warten. Dann kann es für manche Insekten zu spät sein. Gefragt sind auch wir Verbraucher: Wir müssen Lebensmittel einfordern, die insektenfreundlich produziert wurden. Dann muss die Politik reagieren.
Momentan ist die Landwirtschaft ertragsorientiert. Sind Ihre Lösungsvorschläge in Anbetracht von Klimawandel und globalem Bevölkerungswachstum überhaupt realistisch?
Wir können das Blatt wenden wie wir wollen: Wenn wir so weitermachen wie bisher, haben wir ebenfalls negative Folgen. Wir können die Natur nicht ausklammern, sondern müssen begreifen, dass ihr Schutz auch unserem Wohle dient.