Angetäuschte Samenkeimung und vorschnelles Altern
Das Saatgut der Zuckerrübe soll für einen Landwirt die höchste Qualität haben. Saatgutproduzenten wie die KWS SAAT AG aus Einbeck sorgen mit Hilfe aufwendiger Technologien zum Beispiel dafür, dass jeder Same sofort nach der Aussaat und auch unter ungünstigen Umweltbedingungen keimt. Hierzu wird unter anderem ein spezielles Verfahren zur Saatgutvorbehandlung verwendet. Durch diese Aktivierung stehen alle Samen gewissermaßen in den Startlöchern. Aber vorbehandelte Samen können ihre Lagerungsbeständigkeit unter Umständen schnell verlieren. Welche unerwünschten Reaktionen dabei im Sameninneren in Gang kommen und ob sich diese aufhalten lassen, untersuchen Dr. Annette Büttner-Mainik und Privatdozent Dr. Gerhard Leubner von der Universität Freiburg in einem Kooperationsprojekt mit der KWS SAAT AG. Ein Projekt, das neben dem wirtschaftlichen Interesse auch für Samenbanken und Grundlagenforschung interessant ist.
Die Zuckerrübe ist die zweitwichtigste Zuckerquelle weltweit.
© Peggy Grebb
Weltweit werden rund 1,6 Millionen Tonnen Zucker jährlich verbraucht. Die Zuckerrübe deckt 30 Prozent des Bedarfs, nach dem Zuckerrohr ist sie damit die wichtigste Quelle des süßen Stoffs. Die KWS SAAT AG aus Einbeck in Deutschland ist als einer der drei großen internationalen Saatguthersteller ständig bemüht, die Qualität der Zuckerrübensamen zu optimieren. Der Landwirt möchte Samen haben, die möglichst schnell und mit hoher Sicherheit keimen und auch noch gegenüber ungünstigen Umwelteinflüssen gewappnet sind. Nach der Ernte werden die Zuckerrübenfrüchte in einem komplexen Verfahren aufbereitet und in ihre endgültige Form gebracht, die sogenannten Pillen. Im Zuge dieses Aufbereitungsprozesses, bei dem unter anderem die sternförmigen Fruchthüllen abgeschliffen werden, können bis zu acht Prozent des Ausgangsmaterials aufgrund unzureichender Qualitätseigenschaften ausgelesen werden. Das restliche Saatgut, das den hohen Anspüchen genügt, wird mit einer Hüllmasse umgeben, die den Samen rund und damit kompatibel mit der Drillmaschine des Landwirts macht. Nach Bedarf werden diese Pillen mit fungiziden und insektiziden Wirkstoffen ausgestattet. Einer der Teilschritte in dieser Prozesskette ist eine Saatgutvorbehandlung, die die Keimungseigenschaften der Samen positiv beeinflusst. „Ein Saatguthersteller investiert sehr viel Geld und Energie, um eine schnelle, homogene und vollständige Keimung der Samen sicherzustellen“, sagt Dr. Annette Büttner-Mainik, Postdoktorandin am Institut für Biologie II der Universität Freiburg.
Äußerlich jung, innerlich alt?
Samen nach der Keimung: So schauen die gekeimten „Pillen“ der Zuckerrübe aus, wie sie von der KWS SAAT AG an ihre Kunden verkauft werden.
© KWS SAAT AG
Büttner-Mainik untersucht zurzeit in einem Kooperationsprojekt mit der KWS, welche physiologischen Prozesse im Sameninneren ablaufen. Eine Saatgutvorbehandlung ist gewissermaßen das rotgelbe Signal an einer Ampel. Es sagt den Samen: Gleich geht’s los mit der Keimung. Indem der Saatguthersteller während des Verfahrens eine kontrollierte Feuchtigkeitsaufnahme ermöglicht, werden im Inneren eines aufquellenden Samens Stoffwechselvorgänge angestoßen, die ihn auf die Keimung vorbereiten: der Energiemetabolismus setzt ein, kurz danach molekulare Reparaturmechanismen, die zum Beispiel DNA-Schäden ausbessern, die Mitochondrien teilen sich, die gesamte Maschinerie der Proteinbiosynthese wird angeworfen. Bei dem Verfahren wird die Aufbruchsstimmung allerdings „kurz vor Schluss“ gestoppt. Die Samen werden rechtzeitig wieder rückgetrocknet und stehen nun alle in den Startlöchern, damit sie nach der Aussaat auf dem Feld sofort und synchron keimen können.
„Es ist eine hohe Kunst, den richtigen Moment für den Stopp abzupassen, damit die Samen nicht ihre Austrocknungstoleranz verlieren“, sagt Privatdozent Dr. Gerhard Leubner, Leiter der Arbeitsgruppe "The Seed Biology Place" (www.seedbiology.de) im Fachbereich Botanik/Pflanzenphysiologie des Instituts für Biologie II in Freiburg und Chef von Büttner-Mainik. „Außerdem kann die Aktivierung des Saatguts ein Problem mit sich bringen: Ein Samen kann im Normalfall viele Jahre unbeschadet überdauern, vorbehandelte Samen weisen aber in Abhängigkeit von Vorbehandlungsverfahren und -intensität eine erhöhte Alterungssensitivität auf und können unter bestimmten Einflüssen während der Lagerung unter Umständen schon nach einem Jahr geschädigt sein.“
Landwirte kaufen oft mehr Saatgut ein als sie in einem Jahr ausbringen können. Den Rest lagern sie mitunter unter unkontrollierten Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen zum Beispiel in ihren Lagerhallen und sind im nächsten Jahr enttäuscht von der verlorenen Saatgutqualität. Bereits in diesem einen Jahr kann das Samengewebe geschädigt werden. Denn die während der Saatgutvorbehandlung angelegten molekularen Strukturen, die die Keimung nach der Aussaat beschleunigen, sind anfällig gegenüber reaktiven Sauerstoffspezies, also freien Radikalen. Diese greifen Proteine, DNA oder Lipide im Inneren des Samens an. Im trockenen Zustand, während der Lagerung, stehen alle Reparaturmechanismen still und der Same ist damit oxidativen Prozessen wehrlos ausgeliefert, was letztlich zu Alterungsschäden führt. „Zusammen mit der KWS wollen wir jetzt die einzelnen physiologischen und molekularen Zusammenhänge untersuchen, die diesen Alterungsprozessen zugrunde liegen“, sagt Büttner-Mainik. Zwei Jahre soll das Projekt laufen, an dem noch andere Forschungseinrichtungen teilnehmen. Büttner-Mainik und Leubner wollen unter anderem die Auswirkungen der reaktiven Sauerstoffspezies auf Enzyme oder Hormone im Samen untersuchen. Letztere spielen bei der Keimung eine entscheidende Rolle, das hat die Arbeitsgruppe von Leubner schon in einem früheren Projekt mit der KWS gezeigt.
Die Stufen der Vergreisung im Modell
Vorbehandelte Samen stehen in den Startlöchern: Die Graphik zeigt, das unbehandelte Samen viel langsamer keimen. Für 120 mögliche Kombinationen aus Feuchtigkeit und Temperatur haben die Forscher um Annette Büttner-Mainik solche Keimkurven erstellt.
© PD Dr. Gerhard Leubner/“The Seed Biology Place“
Um die Alterungsprozesse in den Zuckerrübensamen zu verstehen, haben Büttner-Mainik und die Kooperationspartner von der KWS in den letzten Monaten ein Alterungsmodell aufgebaut. Sie setzten ihr Saatgut hierfür einer Vielzahl von Kombinationen von Feuchte, Temperatur und Zeit aus und simulierten damit verschiedene Intensitätsstufen des Alterungsprozesses. Sie ließen ihre Samen keimen und verfolgten den Verlauf der Keimung in Abhängigkeit der Zeit. Ziel ist, herauszufinden welche Samen langsamer oder gar nicht mehr keimen und welche Umweltbedingungen dabei welchen Einfluss haben. In den nächsten eineinhalb Jahren werden Büttner-Mainik und Leubner tief in die Samen hineinschauen: Was passiert auf der molekularen Ebene, während ihre Versuchsobjekte künstlich altern? Moderne Microarray-Analysen sollen zum Beispiel enthüllen, welche Gene dabei eine wichtige Rolle spielen. Außerdem wollen die Forscher herausfinden, wie das Hormonsystem reagiert und was genau dabei reaktive Sauerstoffspezies anrichten. Die konkrete Arbeit erfordert dabei mindestens genauso viel Fleiß wie die theoretische: viele Hunderte von Samen müssen von ihrer Fruchthülle getrennt werden, und das ist eine echte Fingerübung.
Aber es lohnt sich. „Einen solchen quantitativen Ansatz hat es noch nie gegeben“, sagt Büttner-Mainik. Die Ergebnisse des Projektes sollen nicht nur von der KWS für eine Optimierung der Verfahrensabläufe genutzt werden. Leubner und Büttner-Mainik erhoffen sich außerdem, allgemeine Grundlagen der Samenalterung zu entschlüsseln. „Solche Ergebnisse könnten zum Beispiel für Genbanken wichtig sein, in denen Samen von Wild- und Kulturpflanzen gelagert werden“, sagt Leubner. „Der Zeitpunkt für das Projekt könnte im Übrigen nicht besser sein, denn in den nächsten Monaten wird die vollständige Genomsequenz der Zuckerrübe vorliegen und es werden auch phylogenetische Vergleiche mit anderen Pflanzengruppen möglich, die das erworbene Wissen auf eine breitere Grundlage stellen werden.“ Und in Zeiten des Klimawandels werden schwankende Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen bei der Lagerung von Samen wohl eher zur Regel werden, zumindest in den Entwicklungsländern. Ein breites Verständnis der Folgen auf die Saatgutqualität wird hilfreich sein.