Baubotanik: Lebendige Architektur wörtlich genommen
Bäume geben nicht nur gutes Bauholz ab. Sie können auch in lebendem Zustand integraler Bestandteil von Bauwerken sein. Die Baubotanik zeigt, wie mit temporären Stahlbauteilen und Pflanzen eine neue Art von Architektur entsteht – klimafreundlich, in neuer Formsprache und mit ganz praktischem Nutzen.
Stahl und Bäume vertragen sich nicht? Das Bureau Baubotanik beweist das Gegenteil.
© Jorinde Duthweiler
2006 fiel am Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen IGMA der Universität Stuttgart der Startschuss für eine Forschungsgruppe der besonderen Art: Die Architekten Ferdinand Ludwig, Oliver Storz und Hannes Schwertfeger wollten Bäume in die Architektur einbinden. Dabei wollten sie Bäume nicht als natürliche Vorbilder in Sachen Konstruktion nachahmen, wie dies Bioniker tun würden, sondern sie wollten direkt mit lebenden Pflanzen arbeiten. Mehrere Jahre lang erforschte das Trio unter anderem die Möglichkeiten, wachsende Bäume als tragende Elemente für verschiedenste Bauwerke zu nutzen und Pflanzen insgesamt gestalterisch einzusetzen. Während Ludwig weiterhin am IGMA forscht, entschieden sich Schwertfeger und Storz, ihre Erfahrungen unternehmerisch zu nutzen. Die beiden gründeten 2010 in Stuttgart das Bureau Baubotanik, in dem heute ein interdisziplinäres Team aus Architekten, Statikern und Naturwissenschaftlern zusammenarbeitet.
Dieser Steg in einem baubotanischen Park in Kamen hat momentan noch eine tragende Konstruktion aus Stahl. Die Roteichen können im Laufe ihres Wachstums dann immer mehr Lasten übernehmen.
© Sebastian Becker
„Wir wollen die Baubotanik in die Praxis bringen und erfahren, was dabei gewünscht und wirklich machbar ist. Wir suchen mit unseren Projekten einen Weg, wie man in unserer hochtechnisierten Umgebung mit Pflanzen architektonisch umgehen und mit ihnen Bauwerke mit hohen Aufenthaltsqualitäten schaffen kann. Dabei geht es uns auch darum, Scheuklappen auf ästhetischer Ebene aufzuweiten, eine neue Art der Kommunikation im Raum zu schaffen“, erklärt Schwertfeger. Vor allem im urbanen Raum hochverdichteter Städte sehen er und seine Kollegen großes Potenzial. Sie wollen der Stadt mit ihren Bauwerken ein Stück natürlicher Lebensqualität zurückgeben. Pavillons, Brücken, Stege, Ausstellungsräume – die bisherigen Praxisbeispiele beweisen, dass vieles möglich ist. Auch Wohngebäude aus Pflanzen kann das Team sich vorstellen. „Wir würden sofort damit anfangen, wenn wir einen Bauherren dafür finden. Seit einem Jahr arbeiten wir an einer Design-Studie für ein bewohnbares Gebäude“, so Storz. Bisher erhält das Team seine Aufträge vor allem von öffentlichen Einrichtungen, Stiftungen und Unternehmen.
Baubotanik meint den gesamten Prozess und nicht nur das fertige Bauwerk
Bäume und Stahl ergänzen sich zu einem stimmigen ästhetischen Konzept. Die baubotanische Konstruktionsweise soll bei dieser Plattform in der Steveraue die Aufgabe übernehmen, langfristige Prozesse einer Landschaft im Wandel deutlich erfahrbar zu machen.
© SFD Heine & Becker
Die Baubotaniker lehnen herkömmliche Materialien keineswegs ab, ganz im Gegenteil. Ihre Architektur besteht aus Mischkonstruktionen, in denen sich Stahl und Baum ergänzen. Da junge Bäume nach dem Einpflanzen naturgemäß noch nicht in der Lage sind, die von den Bauwerken geforderten Lasten zu tragen, übernimmt zunächst eine Stahlkonstruktion die tragende Rolle. Im weiteren Verlauf des Wachstums werden diese temporären Stahlstützen dann sukzessive abgebaut – in dem Maß, wie die Pflanzen an Tragkraft gewinnen. „Die Bäume wachsen quasi in ihre im Vorfeld berechnete Statik hinein. In der Regel erstellen wir zwei statische Berechnungen, eine auf der Grundlage der Stahlkonstruktion, und bei der zweiten Statik fragen wir, wie dick die Bäume und Äste sein müssen, um die Lasten zu tragen“, sagt Oliver Storz. Dabei wird auch berücksichtigt, dass der Wind zusätzliche Lasten miteinbringt und dass die Bäume wie alle anderen Stadtbäume regelmäßig auf ihre Standfestigkeit untersucht werden müssen. Mit ihrem Vorgehen machen sich die Baubotaniker ganz bewusst abhängig von Wachstumsprozessen – sie wollen zeigen, dass man mit den damit verbundenen Unwägbarkeiten umgehen kann.
Unwägbarkeiten sind jedoch nicht gerade das, was Bauämter froh stimmt. Selbst wenn einiges an Spielraum einkalkuliert wird, kann einem die Biologie einen Strich durch die Rechnung machen. Das wissen natürlich auch Schwertfeger und Storz. „Bäume wachsen nicht alle gleich stark, und es kann zum Beispiel auch zu Schädlingsbefall kommen. So wie auch Bäume im städtischen Raum einem regelmäßigen Sicherheits-Monitoring unterworfen sind, werden auch unsere Bauwerke deshalb regelmäßig gepflegt und kontrolliert. Wenn ein Teil der Bäume zum Beispiel nicht mehr trägt, können sie durch Stahl ersetzt werden“, so Schwertfeger. Die Konzepte sind so durchdacht und überzeugend, dass es bisher noch keine Probleme mit den Behörden gab. „Wir verstehen Architektur als Prozess, bei dem es eben immer wieder Anpassungen gibt, wenn sich etwas ändert“, bringt Schwertfeger den Ansatz auf den Punkt.
Die Pflanzen müssen zum Standort passen
Welche Baumarten für die Bauwerke infrage kommen, variiert mit den Anforderungen und den Standortbedingungen. Zu Anfang hat das Stuttgarter Team viel mit Weiden gearbeitet, da sie schnell wachsen und einfach zu handhaben sind. Sie lassen sich zum Beispiel auch gut als Stecklinge verwenden. Weiden sind jedoch nicht für alle Standorte das Richtige, wie Storz sagt. „Sie sind relativ schwache Pionierpflanzen, die sich durch starkes Wachstum gegen ihre Nachbarn durchsetzen wollen. In Auenlandschaften mit hohem Wassereintrag können sie sinnvoll sein, an anderen Standorten nicht unbedingt. Grundsätzlich verwenden wir die Bäume, die an dem jeweiligen Standort am besten funktionieren. Deshalb schauen wir uns zunächst an, was vor Ort wächst und sich für unsere Konstruktionen eignet.“ Für einen Steg in einem baubotanisch gestalteten Park in Kamen (NRW) wurden zum Beispiel Roteichen (Quercus rubra) verwendet, deren Triebe mit rund 2,5 Metern pro Jahr relativ schnell wachsen. Im städtischen Raum setzen die Baubotaniker gerne Platanen ein, da sie sehr robust sind. Exotische Ficus-Arten kommen hingegen in einem Kooperationsprojekt in Rio de Janeiro zum Einsatz.
Dass sich nicht immer alles nur um Bäume dreht, zeigt eine Versuchsanlage in Freising in Kooperation mit der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. Hier erkunden die Baubotaniker neue Möglichkeiten der Ausfachungen mit Klettergurken. Generell stehen Klimm- und Kletterpflanzen mit im Fokus des Stuttgarter Teams. „Wir gehen das an, um mehr konstruktive Elemente in unsere Entwürfe zu integrieren. So untersuchen wir zum Beispiel, wie gut sich Netzstrukturen, die mit Kletter- oder Klimmpflanzen bewachsen werden, als Beschattungselemente eignen. Und auch, wie wir Pflanzen konstruktiv einsetzen können, um auf den Decken von Tiefgaragen etwas wachsen lassen zu können, was dem Umfang nach einem Baum im Stadtraum entspricht. Wir entwerfen Pflanzenkonstruktionen, die auf hoch verdichteten Flächen herkömmliche Bäume ersetzen können“, so Storz.
Der ökologische Gesamtanspruch
Baumpflegerische Maßnahmen helfen dabei, das baubotanische Gesamtkonzept umzusetzen und das Wachstum in die gewünschte Richtung zu lenken.
© Jorinde Duthweiler
Das Team will mit seinen Projekten auch einen Beitrag zur Verbesserung der Biodiversität leisten und sucht deshalb Pflanzenarten aus, die gut in den jeweiligen Bestand passen. Das ergänzt den ökologischen Gesamtanspruch, mit den baubotanischen Projekten auch Anstöße zur Klimaverbesserung zu geben. „Im Berliner Stadtteil Wedding haben wir beispielsweise ein Projekt zur Verbesserung des Mikroklimas gestartet, und wir wollen hier in eine Wohnsiedlung baubotanische Strukturen integrieren, die unter anderem dazu beitragen, Feinstaub zu binden und das Mikroklima an heißen Tagen zu verbessern“, so Storz. Dafür wurde das Team im Juli 2016 im Rahmen des Wettbewerbs „Blauer Kompass“ vom Umweltbundesamts ausgezeichnet. „Außerdem können baubotanische Projekte auch Ausgleichsmaßnahmen sein, um bei neuen Bebauungen an Ort und Stelle die Versiegelung von Flächen ausgleichen“, sagt Storz weiter. Dass die beiden Architekten mit dem Bureau Baubotanik im Trend einer Zeit liegen, die insgesamt auf mehr Nachhaltigkeit bedacht ist, beweist auch der Erfolg bei der Ausschreibung zum Deutschen Pavillon der Expo 2015: Das Bureau Baubotanik kam in Zusammenarbeit mit Studio2050, Werner Sobek und Atelier Markgraph mit dem Entwurf einer baubotanischen Landschaft auf den 3. Platz.