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Bodenbakterien sollen neue Antibiotika produzieren

Immer mehr Genome von Bodenbakterien der Gattung Streptomyces sind komplett sequenziert. Per „Genome Mining“ werden jetzt an der Universität Tübingen Gencluster identifiziert, die in der industriellen Biotechnologie zur Produktion von neuen Antibiotika und anderen Wirkstoffen eingesetzt werden können. Dazu sollen die Biosynthese-Gencluster in spezielle Produktionsstämme integriert und optimiert werden.

Der Siegeszug der Antibiotika hat die gesamte Medizin verändert. Heute drohen die Waffen aus mikrobieller Produktion jedoch stumpf zu werden: Immer häufiger sind bakterielle Krankheitserreger resistent gegen eine Behandlung mit Antibiotika. „Wir haben aufgrund der Resistenzen einen dringenden Bedarf an neuen Antibiotika, dem aber seit Jahrzehnten eine viel zu kleine Zahl neuentdeckter Wirkstoffe gegenübersteht. Diese aufklaffende Schere ist eines der größten Probleme in der pharmazeutischen Forschung“, bestätigt Prof. Dr. Lutz Heide vom Pharmazeutischen Institut der Universität Tübingen. Auch er forscht intensiv nach neuen antibiotischen Substanzen, um die Versorgungslücke zu schließen.

Dabei kooperiert Heide bereits seit Jahren mit Prof. Dr. Wolfgang Wohlleben vom Interfakultären Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin der Tübinger Universität. Beide Wissenschaftler teilen ein Interesse an Bodenbakterien, speziell Streptomyces-Arten, als Wirkstoffquelle. Außerdem arbeiten sie mit vereinten Kräften daran mit, die Forschung zu Antiinfektiva in Tübingen zu stärken. So sind Heide und Wohlleben auch am Aufbau des Tübinger Standortes des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung beteiligt.

Prof. Dr. Lutz Heide vom Pharmazeutischen Institut der Universität Tübingen kooperiert zur Wirkstoffentwicklung intensiv mit europäischen Kollegen. © privat
Prof. Dr. Wohlleben ist Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereiches "Die bakterielle Zellhülle: Struktur, Funktion und Schnittstelle bei der Infektion", an dem auch Prof. Dr. Lutz Heide beteiligt ist. © privat

Streptomyceten als Antibiotika-Produzenten: Klassiker mit Potenzial

Bodenbakterien – eine vielversprechende Quelle für die Arzneistoffentwicklung der Zukunft. © Paas, Tübingen

Bodenbakterien sind seit Langem potente Lieferanten von Antibiotika, was angesichts ihres heterogenen Lebensraums nicht weiter erstaunt: Im Boden müssen Bakterien nicht nur wechselnden, teils extremen Umweltbedingungen trotzen, sondern sich auch gegenüber vielfältigen Feinden und Konkurrenten durchsetzen. Deshalb entwickelten sie im Verlauf der Evolution ein umfangreiches Arsenal an Biosynthese-Wegen für antibiotisch wirksame Substanzen. Für deren bedarfsgerechte Produktion haben die Bakterien ein ausgeklügeltes Regulationssystem mit genetischen und epigenetischen Komponenten entwickelt.

Bei der Erforschung der Biosynthese-Gene und ihrer komplexen Regulation in Streptomyceten profitieren die Tübinger Forscher von der enorm gestiegenen Leistungsfähigkeit bei DNA-Sequenzierungen. „Streptomyceten sind die erfolgreichsten Antibiotika-Produzenten und als solche bereits gut untersucht. Die bereits sequenzierten Genome zeigen, dass sie je nach Art zwischen 15 und 35 Antibiotika synthetisieren können. Darunter sind Substanzen, die wir nie zuvor gesehen haben“, sagt Heide. Auf die Gesamtheit der Bodenbakterien bezogen ist das Potenzial gewaltig, denn laut Heide sind erst geschätzte 0,3 Prozent aller Bodenbakterien überhaupt ins Labor geholt worden.

Im EU-Programm ERA-IB wird internationale Expertise gebündelt

Die Europäische Union unterstützt ihn und Wohlleben in den kommenden drei Jahren dabei, den gewaltigen Schatz an Antibiotika und möglicherweise noch anderen Wirkstoffen zu heben und im Rahmen der industriellen Biotechnologie für die Medizin nutzbar zu machen. Im EU-Forschungsprogramm ERA-IB sind die Tübinger Forscher gemeinsam an zwei umfangreichen Verbundprojekten beteiligt, die sich mit Wirkstoffen aus Streptomyceten befassen. „Die Projekte greifen in verschiedenen Stufen der Verwertungsskala und ergänzen sich deshalb hervorragend“, so Heide.

Prof. Heide fungiert beim Projekt „GenoDrug“ als Koordinator. Wie bei EU-Projekten üblich und gefordert, sind Partner aus mehren EU-Ländern beteiligt. Darunter sind Experten für Genregulation aus Polen und den Niederlanden, spanische Spezialisten für Wirksamkeitstests neuer Substanzen und für die Entwicklung molekulargenetischer Strategien zur Optimierung der Bioproduktion. Verfahrens-Know-how steuert ein Team aus Finnland bei, das auch über eine Vielzahl mittelgroßer Fermenter verfügt, in denen optimierte Streptomyces-Stämme kultiviert werden sollen.

Zentrales Anliegen der GenoDrug-Teams ist es, eine Methode zu entwickeln, um stillgelegte Gencluster zu aktivieren, die den Bauplan für interessante Antibiotika und gegebenenfalls auch andere Wirkstoffe, etwa gegen Krebs, enthalten. Diese Gencluster sollen in optimierter Form in Produktionsstämme integriert werden. Im Grunde geht es dabei um nichts weniger als eine neue Technologie zur Wirkstoffentwicklung. „Wir wollen die Substanzen, die wir mithilfe des Genome Mining identifizieren, hinsichtlich Bioaktivität und Toxizität analysieren und im Milligramm-Maßstab produzieren können“, formuliert Heide das ehrgeizige Projektziel.

Bioproduktion von Antiinfektiva und Antitumor-Wirkstoffen soll optimiert werden

Das zweite Verbundprojekt namens IMMUNOTEC wird von Prof. Dr. Juan-Francisco Martin von INBIOTEC, einem biotechnologischen Institut im spanischen Leon koordiniert. Neben den Tübinger Teams um Heide und Wohlleben ist auch ein mittelständisches spanisches Unternehmen beteiligt, das Antibiotika produziert. Forschungsobjekt sind bereits bekannte Wirkstoffe, die aus Streptomyces-Arten gewonnen werden können: Tacrolimus und Ascomycin. Beide Substanzen sind effektive Immunsupressoren und werden unter anderem zur Vermeidung von Abstoßungsreaktionen nach Organtransplantationen eingesetzt. Weiterentwicklungen dieser Substanzen haben auch das Potenzial zur Tumorbekämpfung. „Das Patent zur Herstellung von Tacrolimus ist kürzlich abgelaufen, was mit ein Grund dafür ist, dass wir es in unser Forschungsprogramm aufgenommen haben“, sagt Heide. Die Verbundpartner wollen Streptomyces-Produktionsstämme entwickeln, die es erlauben, die jeweilige Substanz in größerer Menge als bisher und besonders preiswert zu produzieren.

„Um solche Ziele zu erreichen, wurde bisher meist mit ‚random mutagenesis’, also der Erzeugung zufälliger Mutationen gearbeitet. Mit unseren Methoden hoffen wir, schneller zum Ziel zu kommen, indem wir bei der Regulation der Genexpression angreifen und diese für unsere Zwecke optimieren. Dazu integrieren wir die entsprechenden Gencluster in andere Bakterien. Wir bleiben zwar bei der gleichen Gattung, wählen jedoch eine andere Art, zum Beispiel Streptomyces griseus, als bewährten Produktionsstamm“, so Heide.

Molekularbiologie und Gentechnik mit Raffinement sind gefragt

Die DNA in Streptomyces-Bakterien wird rekombiniert, um biotechnologisch neue Antibiotika herstellen zu können. © Paas, Tübingen

Was sich angesichts innovativer gentechnischer Verfahren zunächst relativ einfach anhört, steckt im Detail voller Tücken, wie Heide erklärt: „Wir haben es hier mit Genclustern in einer Größenordnung von 100 Kilobasenpaaren zu tun, die entsprechend schwierig zu klonieren sind. Wir müssen Inserts von mehreren Plasmiden zusammen klonieren, arbeiten mit künstlichen bakteriellen Chromosomen, die nicht einfach zu handhaben sind. Außerdem ist es eine Herausforderung, die großen Cluster im Produktionsstamm stabil zu erhalten. Deshalb wollen wir den Rest des Stoffwechsels in der richtigen Richtung optimieren, etwa in Bezug auf die stickstoff- und phosphatabhängigen Regulationswege.“
Derart anspruchsvolle und komplexe Zusammenhänge können nur mithilfe einer weit entwickelten Bioinformatik bewältigt werden. Das gilt für beide Projekte. Es sind immense Datenmengen zu verwalten und zu interpretieren, und mittelfristig sollen Stoffwechsel-Modelle und Simulationen dabei helfen, die Laborarbeit voran zu bringen.

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