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Der Schatz aus der Wurzelrübe

Forscher der Universität Hohenheim gewinnen aus Chicorée-Abfällen eine Basischemikalie zur Herstellung von Nylon und Plastik. Hydroxymethylfurfural (HMF) ist eine von 12 Basischemikalien, die zur Herstellung von Plastik eingesetzt werden. Der aus der Chicorée-Wurzel gewonnene Rohstoff verbessert die Umweltbilanz – vor allem durch die Substitution des Erdöls – und steht in keiner Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion.

Weil Preußenkönig Friedrich der Große die Devisen für teuren Bohnenkaffee sparen wollte, wurde der Anbau der Wegwarte oder Wurzelzichorie (Cichorium intybus var. sativum), deren Rübe beim Rösten ein kaffeeähnliches Aroma entfaltet, im 18. Jahrhundert stark gefördert. Neben der Wurzelzichorie züchtete man mit der Salatzichorie auch eine auf Blattnutzung ausgelegte Varietät der Wegwarte, von der die modernen Salatsorten Radicchio und Zuckerhut stammen. Ende des 19. Jahrhunderts bemerkten belgische Bauern, dass aus den in Erde eingeschlagenen Wurzeln dieser Salatzichorie eine schmackhafte, bleiche Salatknospe sprießt – die Entdeckung des Chicorée-Salates. Heute werden europaweit mehr als 14.000 Hektar Chicorée angebaut, größte Produzenten sind Frankreich, Belgien und die Niederlande.

Aus der Chicorée-Wurzel gewinnen die Wissenschaftler Hydroxymethylfurfural (HMF). © Universität Hohenheim

Wie Hohenheimer Forscher um die Agrartechnikerin Prof. Dr. Andrea Kruse herausgefunden haben, lässt sich aus der Wegwarte aber nicht nur Salat und Kaffee-Ersatz gewinnen, sondern auch die chemische Grundlage für Plastikflaschen und Strumpfhosen. Der Milchsaft der Rübe enthält im Herbst durchschnittlich 15 bis 20 Prozent Inulin – ein Vielfachzucker auf Fructosebasis, in dem die Pflanze die Energie speichert, die sie im folgenden Sommer zum Aufwachsen und Blühen braucht. Aus diesem Polymer der Fructose lässt sich Hydroxymethylfurfural (HMF) gewinnen: ein gelblich-braunes Pulver und eine von 12 Basischemikalien zur Herstellung von Plastik. Dominik Wüst, Leitender Ingenieur am Hohenheimer Institut für Agrartechnik erläutert die Entwicklung: „Zuerst haben wir versucht, das HMF aus der Cellulose im Holz zu gewinnen, was zu schlechten Ausbeuten führte, dann aus Melasse, einem Reststoff, der bei der Zuckerproduktion anfällt. Das funktionierte gut, aber wir haben dann bewusst nach einem Abfallstoff gesucht und sind schließlich bei der Chicorée-Wurzel gelandet“. Um die begehrte Chemikalie zu extrahieren werden die Wurzelstrünke gehäckselt, mit verdünnter Säure versetzt und unter Druck auf bis zu 200 °C erhitzt wie in einem Dampfkochtopf. Die Chicorée-Wurzeln sind für die Forscher der perfekte Rohstoff, weil sie in der landwirtschaftlichen Produktion als Abfall anfallen und so nicht in Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion stehen.

Salat und Rohstoffe

Der Chicorée-Bauer erntet im Herbst die Wurzelrüben und lässt sie im abgedunkelten Treibhaus austreiben. Früher wurden die Wurzeln dazu in Erde eingeschlagen, heute stehen sie in sogenannten Wasser-Treibereien dicht an dicht in Kisten, umspült von einer Nährlösung, in der sie innerhalb von drei Wochen die als Chicorée-Salat bekannte, 15–20 cm lange Knospe ausbilden. Der Löwenanteil der Wurzeln, in Europa jedes Jahr etwa 800.000 Tonnen, bleibt nach der Ernte als Abfall zurück und wird kompostiert. Nur ein kleiner Teil landet in Biogasanlagen oder wird als Tierfutter angeboten.

Wertvolle Wurzeln

Anlage zur Produktion von Hydroxymethylfurfural (HMF). © AVA Biochem BSL AG

Die zuckerhaltigen Knollen sind aber viel zu schade für den Kompost. Denn ein Kilo des in ihnen steckenden HMF erzielt im Chemikalien-Großhandel aktuell 2.000 Euro. Hochgerechnet auf den HMF-Ertrag von einem Hektar Wurzelrüben ließen sich so nach Angaben der Hohenheimer Forscher fast sechs Millionen Euro erzielen. „Das ist leider nur eine theoretische Größe, die das Potenzial verdeutlichen soll“, relativiert Ingenieur Wüst lachend und erläutert: „Wenn wir so weit sind, dass wir große Mengen HMF herstellen können, werden die Preise natürlich fallen. Um für die Kunststoffindustrie interessant zu werden, müssen wir in Richtung zwei bis drei Euro pro Kilo HMF kommen.“ Der Industriepartner der Hohenheimer Forscher, die Firma AVA Biochem aus Basel entwickelt eine großtechnische Anlage für das Verfahren und hat sich vorgenommen, ab 2019 jährlich 30.000 bis 120.000 Tonnen HMF zu produzieren. Das Schweizer Unternehmen betreibt in Muttenz im Südosten von Basel eine der weltweit ersten Industrieanlagen zur Produktion von Hydroxymethylfurfural aus Biomasse. In der bestehenden Anlage wird das HMF aus Melasse gewonnen, die bei der Zuckerproduktion anfällt. Eine Pilotanlage für die Chicorée-Verwertung befindet sich in der Entwicklungsphase. Durch Oxidation des HMF stellt man in Basel Furandicarbonsäure (FDCA) her, die wiederum die Produktion von Materialien aus biobasiertem PEF (Polyethylenfuranoat) erlaubt.

Aus der Rübe in die Flasche

HMF bildet die Grundlage für Nylon, Polyester, Perlon oder Kunststoff-Flaschen. © Universität Hohenheim

Der auf Erdölbasis produzierte PET-Kunststoff (Polyethylenterephthalat) besteht bis zu 85 Prozent aus Terephthalat, und das „T“ im PET soll durch das „F“ der Furandicarbonsäure aus Pflanzenmaterial ersetzt werden. Über Flaschen, Strümpfe, Sportbekleidung und Folien bis hin zu Gefäßprothesen: In Zukunft könnte sich überall dort, wo heute PET-Kunststoff eingesetzt wird, der biobasierte Kunststoff PEF anwenden lassen. Andrea Kruse betont: „Die Chicorée-Wurzelrübe eignet sich nicht nur deshalb so gut zur Gewinnung von HMF, weil sie ein Abfallprodukt ist, sie produziert auch eine höherwertige Chemikalie als das Äquivalent aus Erdöl.“ Dadurch könnten PEF-Flaschen aus Chicorée-HMF beispielsweise dünner gezogen werden als solche aus Erdöl-PET. Das spart Transportkosten und verbessert die Umweltbilanz noch weiter.


Die größte Schwierigkeit auf dem Weg zum industriellen Bioplastik aus Chicorée bereitet die Saisonalität der Pflanzen. Im Winter, wenn der Salat erntereif ist, fällt eine große Menge Wurzelmasse als Abfall an. Lässt man sie einfach liegen, werden die empfindlichen Zucker schnell enzymatisch abgebaut und stehen dann nicht mehr für die Umwandlung in HMF zur Verfügung. Die Forscher experimentieren deshalb mit Methoden wie der Vakuumtrocknung der Rübenhäcksel. Ziel ist es, die Wurzeln möglichst verlustfrei zu lagern. Die Forscher sind zuversichtlich, dass das Verfahren in zwei Jahren in größerem Maßstab umgesetzt werden kann. „Eine herkömmliche PET-Flaschenproduktion auf PEF umzustellen ist kein großer Aufwand und die Flaschen wären zu 85 Prozent biobasiert. Auch das ist der Charme an der Geschichte“, kommentiert Wüst die Vision der Forscher.

Biobasiert bedeutet nicht automatisch auch biologisch abbaubar

Wer nun aber denkt, er könne seine Flaschen aus „Bioplastik“ in Zukunft einfach auf dem heimischen Kompost entsorgen, täuscht sich. Denn nicht jeder Kunststoff aus nachwachsenden Rohstoffen ist automatisch auch biologisch abbaubar. Selbst ausdrücklich als „biologisch abbaubar“ bezeichnete Bioplastiktüten können nach Angaben des Umweltbundesamtes1 nur in industriellen Kompostierungsanlagen verwertet werden. Biokunststoffe, die über HMF hergestellt werden, gehören in der Regel in den gelben Sack und nicht auf den Kompost. So können sie wie erdölbasierte Kunststoffe recycled werden. Der Nutzen der Biokunststoffe liegt also vor allem in der Substitution des Erdöls durch nachwachsende Rohstoffe.

1 https://www.umweltbundesamt.de/themen/tueten-aus-bioplastik-sind-keine-alternative

Plastik, Polymere, Polysaccharide
Kunststoffe oder Plastik sind Werkstoffe, die aus Makromolekülen bestehen – sehr großen Molekülen aus sich kettenartig wiederholenden Einheiten, auch Polymere genannt. Aus Erdöl hergestellte Polymere sind die Hauptkomponente synthetischer Kunststoffe wie Polyethylen (PE) oder Polypropylen (PP). Es gibt aber auch von Lebewesen erzeugte sogenannte Biopolymere. Dazu gehören Enzyme, Nukleinsäuren und Lipide, aber auch Vielfachzucker (Polysaccharide) wie Stärke, Cellulose oder das Inulin in der Chicorée-Wurzel. Etwa bis in die 1930er Jahre wurden Kunststoffe fast ausschließlich aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt, beispielweise Celluloid oder Cellophan. Erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs nutzt man in der Kunststoffherstellung fossile Rohstoffe wie Erdöl oder Erdgas. In jüngster Zeit versucht man bei der Kunststoffproduktion im Sinne von Nachhaltigkeit und geschlossenen Stoffkreisläufen wieder verstärkt auf pflanzliche Polymere zurückzugreifen.

Seiten-Adresse: https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/der-schatz-aus-der-wurzelruebe