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Entwicklung des Nervensystems vom Ursprung her aufrollen

Unscheinbare Ringelwürmer kommen in der Entwicklungsbiologie groß raus. Ihre Larven haben ein rudimentäres Nervensystem mit einfachsten Schaltkreisen. Seine Erforschung liefert ein Bild von den Anfängen der Evolution, vom Ursprung der neuronalen Entwicklung. Als Nebeneffekt liefern die Ergebnisse Impulse für praktische Anwendungen.

Dr. Gáspár Jékely hat die Platynereis-Forschung am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie etabliert, um die Entwicklung ursprünglicher Nervensysteme zu erforschen. © Dr. Gáspár Jékely

Aus dem gesamten Tierreich haben es nur ein paar Arten zu einem gut untersuchten Modellorganismus gebracht. Zu den Top Ten der Biowissenschaften zählen Mäuse, Zebrafische, Fruchtfliegen und Fadenwürmer. Besonders dünn wird es bei den Meerestieren. „Außer dem Seeigel gibt es in der Entwicklungsbiologie nur sehr wenig Meerestiere, die wirklich gut untersucht sind“, sagt Dr. Gáspár Jékely vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Er möchte das Feld erweitern und hat sich für seine Untersuchungen Platynereis dumerilii ausgesucht, einen marinen Borstenwurm, der zum Stamm der Ringelwürmer gehört.

Natürlich hat Jékely den Organismus nicht nur wegen seines Exotenstatus gewählt. Ein ganz praktischer Grund ist, dass sich die Würmer und ihre Larven gut im Labor halten lassen. „Als ich 2007 aus Heidelberg nach Tübingen kam, habe ich die Kulturen hier etabliert. Inzwischen haben wir hier mehrere Hundert Aquarien und können die Würmer züchten wie Zebrafische“, so Jékely. Damit ist für den Forschungsgruppenleiter und sein zehnköpfiges Team der Nachschub gesichert. Speziell für Entwicklungsbiologen sind Ringelwürmer ein gutes Forschungsobjekt, weil sie sich im Laufe der Evolution nur wenig verändert haben. „Wir haben es hier mit einem lebenden Fossil zu tun, ähnlich dem Quastenflosser Latimeria, der als lebendes Fossil unter den Fischen berühmt wurde. Platynereis hat sich in den 500 Mio. Jahren seit dem Kambrium nur wenig verändert, was unter anderem daran liegt, dass er immer unter den gleichen Bedingungen in marinem Umfeld gelebt hat. Wir können heute messen, wie schnell sich Gene verändern, und sehen, dass bei diesem Tier die Evolutionsprozesse sehr langsam verlaufen“, sagt Jékely.

Was lange währt, kündet vom Ursprung

Der erwachsene Borstenwurm Platynereis weist zwei Paare von Augen auf. Gut zu erkennen sind die sensorischen Anhänge am Kopf. © Jékely, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie

Das Ursprüngliche ist es also, was den Wurm und seine Larve so anziehend für die Forschung macht. „Wir können viel daraus lernen, speziell, was die Evolution des Nervensystems angeht“, sagt Jékely. Aufschlussreich sind vor allem die Fortbewegung und die Kontrolle der Schwimmtiefe bei den Larven. Platynereis-Larven haben einen Wimpernkranz aus Tausenden von Zilien, mit denen sie koordinierte Schlagbewegungen ausführen. Zwar können die Larven als Teil des Planktons frei im Meer schwimmen, sie halten sich jedoch bevorzugt in einer für sie optimalen Tiefe auf. Dies verhindert, dass die Larven schädigenden Umweltbedingungen wie zu hoher Temperatur oder starker UV-Strahlung ausgesetzt werden.

Die Schwimmtiefe halten die Larven, indem sie abwechselnd den Zilienschlag ein- und ausschalten. Ersteres treibt die Larve aufwärts, letzteres lässt sie sinken. Beides geschieht mit einer Frequenz, die die Larve mehr oder weniger an der Stelle hält – jedenfalls so lange, wie sie sich hier wohl fühlt. Warum die Larve sich im Kleinen dauernd hoch und runter bewegt, ist noch unklar. „Möglicherweise hat sie das ‚erfunden’, weil sie damit sehr energieeffizient eine bestimmte Schwimmtiefe halten kann, schließlich kostet jede Zilienbewegung Energie“, spekuliert Jékely.

Zwei Tage alte Platynereis-Larven. Sie bewegen sich mithilfe des dichten Wimpernkranzes vorwärts. Die Richtung wird durch sensorische Reize bestimmt. © Jékely, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie

Die Larven können sowohl physikalische Umgebungsbedingungen, wie Licht und Temperatur, als auch die chemische Zusammensetzung ihrer Umgebung erfassen. Dadurch werden jeweils neuronale Impulse auslöst, die die Zilienbewegung steuern. Vermittler dieser Botschaft sind Neuropeptide, von denen die Forscher inzwischen elf identifiziert haben. Je nach Menge und Zusammensetzung der Neuropeptide werden unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. „Unsere bisherigen Experimente zeigen, dass es sich wohl um additive Effekte handelt. So löschen sich die Wirkungen inhibitorischer und aktivierender Neuropeptide gegenseitig aus“, sagt Jékely. Resultiert jedoch eine Bewegung, können sich die Larven mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in jede Richtung bewegen. Die Verschaltung dafür ist extrem simpel, denn die sensorischen Nervenzellen haben zugleich motorische Funktion. Es gibt keine zwischengeschalteten Interneuronen, die Axone der Nervenzellen führen direkt zu den Zilien des Wimpernkranzes, deren Bewegung sie steuern.

Sehr spezielle Fototaxis liefert Impulse für die Robotik

Die Fototaxis der Larven hat das Tübinger Team inzwischen aufgeklärt und 2008 im Fachjournal „Nature“ veröffentlicht. Die Larven haben zwei „Augen“, je eines pro Seite, mit denen sie die Umgebung nach Licht scannen, was eine Bewegung in Richtung Lichtquelle auslöst. Das Raffinerte ist, dass sich die Larven durch den Zilienschlag um ihre eigene Achse drehen. „Je nachdem, aus welcher Richtung mehr Licht kommt, wird in der entsprechenden Zelle ein Signal ausgelöst und das Tier passt seine Richtung durch kleine Änderungen im Zilienschlag an. So entsteht eine schraubenartige Vorwärtsbewegung“, erklärt Jékely. Diese Art der Navigation verdeutlicht ein frei verfügbares Computermodell, das im Internet zu finden ist unter www.cytosim.org/platynereis/.

Zwei Fotorezeptorzellen regulieren also den Zilienschlag. „Das ist der einfachste neuronale Schaltkreis, der je gefunden wurde. Wir glauben, dass es sich hier evolutionsbiologisch um eine sehr alte multifunktionale Zelle handelt. Darwin hatte bereits postuliert, dass Augen zunächst sehr einfach aufgebaut waren. Durch unsere Untersuchungen gewinnen wir nun eine bessere Vorstellung von der Urform tierischer Augen. Das ist wichtig, um ein vollständiges Funktionsmodell über jede Stufe der Komplexität und somit eine bessere Vorstellung der Evolution zu erhalten“, erklärt Jékely. Neben dem Erkenntnisgewinn liefern die Tübinger Forschungsergebnisse auch Ideen für technologische Innovationen. Das fototaxische Modell der Larven könnte als Vorbild für die Unterwasserrobotik oder auch für Navigationsstrategien ganz allgemein dienen. Gerade die Einfachheit der Verschaltung könnte hier wichtige Impulse liefern, ist sich Jékely sicher.

Auch in die Chemo-Sensorik der Platynereis-Larven haben die Forscher inzwischen Einblick, wobei Jékely betont, dass es sich hier nicht um klassische Chemotaxis handelt. „Eine Chemotaxis im eigentlichen Sinne existiert im Meer nicht, höchstens im Nahbereich. Ansonsten gibt es zu viele Turbulenzen, die verhindern, dass sich ein stabiler Gradient bildet. Wir haben bei unseren Larven jedoch eine chemosensorische Zelle gefunden, die Neuropeptide bildet, um die Zilienbewegung auszuschalten.“ Die Zellen sind offensichtlich in der Lage, Substanzen zu detektieren, die auf Nahrung hinweisen. Das können Partikel sein, die von Seegras oder Makroalgen aufsteigen. Die Chemosensorik spielt auch eine Rolle bei der Entwicklung der Larve zum juvenilen Wurm. Wenn die Umgebung passt, lassen sich die Larven zum Meeresboden sinken und fangen an, weitere Körpersegmente zu bilden, bis schließlich ein erwachsener Borstenwurm entsteht, der fortan am Meeresboden lebt. Wie genau diese Entwicklung gesteuert wird, untersuchen die Tübinger Forscher zurzeit.

Forschung kann dabei helfen, Aquakulturen wirtschaftlicher zu betreiben

Auch die Forschung zur Chemosensorik hat praktische Aspekte. Ähnlich regulierte Entwicklungszyklen von der Larve zum erwachsenen Tier gibt es zum Beispiel auch bei Seeigeln und Muscheln – Tieren, die zunehmend als Nahrungsquelle in Aquakulturen gehalten werden. Ringelwürmer sind zwar eher nicht zum menschlichen Verzehr geeignet, dennoch gibt es Massenhaltung in Aquakultur, wie Jékely weiß: "Vor allem in der japanischen Fischereiindustrie werden Ringelwürmer massenhaft als Köder verwendet und deshalb in großen Mengen gezüchtet, das ist ein Millionen-Dollar-Business." Wirtschaftlich wäre es also hochinteressant, die Entwicklung der nutzbringenden Meeresbewohner gezielt steuern zu können und damit die Produktion an den jeweiligen Bedarf anzupassen.

Die Forscher vermuten, dass neben Licht und chemischen Signalen auch die Temperatur und die Druckverhältnisse von den Larven wahrgenommen werden und Einfluss auf ihr Leben und ihre Entwicklung nehmen. Auch die Erforschung dieser Zusammenhänge steht in Tübingen auf der Agenda. Ihre generellen Erkenntnisse wollen Jékely und sein Team auf weitere Lebewesen des Planktons ausweiten, die ebenfalls ein einfaches Nervensystem haben. Dazu hat das Team bereits auf der Basis der Platynereis-Peptide einige neuronale Antikörper entwickelt, um Nervensysteme anatomisch studieren zu können. Jékely ist sich sicher, dass die schnelle Weiterentwicklung biologischer Methoden sein Gebiet in Zukunft noch schneller voranbringen wird. „Genomsequenzierungen werden immer schneller und günstiger, außerdem können wir Gene schneiden und editieren. Knockout-Mutationen lassen sich bereits mit heutiger Technologie durch Mikroinjektion von DNA in Ringelwurmeier recht einfach erzeugen. Die technologischen Fortschritte geben uns die Möglichkeit, neuronale Aspekte auf molekularem Niveau zu untersuchen. Damit ist es aus meiner Sicht an der Zeit, über die alten Modellorganismen hinauszugehen und neue wie Platynereis zu etablieren.“

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