Bioökonomie in Bauwesen und Architektur
Entwicklung innovativer, ökologischer Baumaterialien und -verfahren an der Universität Stuttgart
Das Baugewerbe in Baden-Württemberg boomt wie schon seit 1996 nicht mehr. Niedrige Zinsen und die ungebremste Nachfrage nach Wohnraum führten bei den Auftragseingängen zu einem Anstieg um fast 10 % zwischen Januar 2016 und Januar 20171. Wünschenswert wäre deshalb auch in diesem Bereich die Umstellung auf bio-basierte Materialien und Produkte im Sinne der Bioökonomie. Einen Beitrag dazu könnte das Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart leisten.
Laut dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm (ProgRess) hat sich Deutschland zum Ziel gesetzt, die Rohstoffproduktivität bis zum Jahr 2020 im Vergleich zu 1994 zu verdoppeln2. Das ist nur möglich, wenn der Verbrauch von abiotischen Rohstoffen bei gleichbleibendem Bruttoinlandsprodukt drastisch sinkt3. Dem gegenüber steht der stark wachsende und mit Abstand ressourcenintensivste Wirtschaftszweig des Bauwesens, der in Europa im Hoch- und Wohnungsbau fast ausschließlich auf mineralische, zementbasierte Baumaterialien setzt4. So werden in Deutschland jährlich 5,5 Mio. Tonnen Stahl und 28 Mio. Tonnen Zement verbaut und gleichzeitig fallen 192 Mio. Tonnen Bauabfälle an – das entspricht mehr als der Hälfte des deutschen Abfallaufkommens2.
Forschung in Stuttgart für mehr Nachhaltigkeit in Bauwesen und Architektur
Forscher des ITKE kopieren das Prinzip des Mechanismus im Sinne der Bionik zur Herstellung innovativer Verschattungssysteme.
© Prof. Dr. Jan Knippers / Prof. Dr. Thomas Speck5,10
Am ITKE in Stuttgart beschäftigen sich Wissenschaftler mit der Zukunft des Bauens, das heißt, sie erforschen nachhaltige Lösungsansätze für den Bausektor. Dies umfasst zum Beispiel die Entwicklung von biobasierten Baumaterialien, Tragkonstruktionen und Interior-Design-Elementen. Dabei ist den Entwicklern die Verwendung von regional verfügbaren Naturfasern wichtig, damit Möbel oder Wandverkleidungen nicht nur durch ihre Optik oder interaktiven Elemente überzeugen können, sondern auch durch ihren ökologischen Mehrwert. Durch die enge Verknüpfung von Forschung, Lehre und Industriepartnern werden modernste, digitale Modellierungstools und Produktionsmethoden (wie der 3D-Druck) genutzt, um die Ideen der Forscher in Prototypen umzusetzen. Neben biobasierten Möbeln werden auch biobasierte Materialien zur Wärme- und Schalldämmung oder neue Konversionsverfahren entwickelt, mithilfe derer die Umwandlung von Biomasse zu widerstandsfähigen Baumaterialien erst möglich wird. Daneben trägt das ITKE mit bionisch inspirierten Materialien oder kleberfreien Verbindungselementen und -verfahren zur Reduktion des fossilen Ressourcenverbrauches bei. Auch wenn dies nicht automatisch mit biobasiertem Wirtschaften gleichzusetzen ist, so ist die Reduktion fossiler Rohstoffe dennoch ein wichtiger Schritt hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise.
Das mehrfach ausgezeichnete Verschattungssystem Flectofin© zum Beispiel ist ein solch ressourcenschonendes System zur Fassadenverkleidung aus dem Bereich der Bionik (= die Verknüpfung von Biologie und Technik zur Entwicklung innovativer Technologien nach dem Vorbild der Natur). Als Vorbild diente die Tropenpflanze Strelitzia reginae, welche auf ornithophile Bestäubung (durch Vögel) angewiesen ist. Sobald sich ein Vogel auf der Blüte niederlässt, führt dessen Gewicht dazu, dass der Bestäubungsmechanismus in Gang gesetzt wird – der Pollenbeutel öffnet sich und Pollen bleiben an den Füßen des Vogels kleben. Dieses nicht-autonome Verformungsprinzip (= Verformung durch externe Krafteinwirkung) wurde in einem mehrstufigen Abstraktionsprozess in eine lamellenartige Fassadenstruktur übersetzt, die die Energieeffizienz in Gebäuden steigern kann. Denn gerade die modernen Glasfronten vieler (Büro-)Gebäude führen im Sommer zu überhitzten Räumen und im Winter zu enormen Energieverlusten von bis zu 40 %. Würden Klimaanlagen durch Verschattungssysteme wie Flectofin© ersetzt und damit auch passive Energieverluste im Winter reduziert, könnten pro Jahr ca. 41 Mio. Tonnen Öl und 111 Mio. Tonnen CO2 eingespart werden5.
Integrative Baumethoden im Sinne der Bioökonomie
Um Bauwesen und Architektur nachhaltiger zu gestalten, reichen innovative Fassaden allein jedoch nicht aus. Aus diesem Grund wird am ITKE ebenfalls intensiv an neuen Baumethoden geforscht, die ressourcenschonend und emissionsreduziert zugleich sein sollen. In dem Forschungsprojekt „Homes“ beispielsweise wird eine modulare Bauweise erprobt, die auf das Verbinden fertiger Bauelemente statt auf konventionelle Baukonstruktionen setzt6. Dafür werden Wandelemente schon im Werk mit Strom- und Wasserleitungen ausgestattet und auf der Baustelle nur noch zu einem fertigen Gebäude verbunden. Die modulare Bauweise, auch aus der Automobilindustrie bekannt, soll vor allem in Verbindung mit durchdachten Stoffkreisläufen und der Verwendung von Recyclingmaterialien zur Verringerung des Bauschuttaufkommens beitragen7.
Weiterhin ist das ITKE einer von sechs europäischen Forschungspartnern und arbeitet gemeinsam mit 14 Industriepartnern im Rahmen des Projektes InnoChain an der Entwicklung neuartiger Design-Lösungen. Dabei spielt vor allem die kombinierte Nutzung von digitalen Design-Werkzeugen, adaptiven, nachhaltigen Materialien und robotischen Fertigungstechnologien eine Rolle8. Wie so etwas in der Praxis aussehen könnte, wurde anhand des Baus eines Forschungspavillons auf dem Universitätscampus Stuttgart im April 2016 gezeigt, welcher auf einer Holz-Leichtbaukonstruktion basiert. Nach dem Vorbild der Struktur einer Seeigel-Schale wurden 3-5 mm dünne Buchenholz-Furnierplatten hergestellt und durch automatisierte Fertigungsmethoden miteinander vernäht. Dadurch kann auf metallische Verbindungsstücke komplett verzichtet werden. Die Holzplattenbauweise bringt konstruktive Vorteile und Materialersparnis mit sich, da die Furnierplatten Tragwerk, Rohbau und Innenwand der Konstruktion in einem sind. Außerdem handelt es sich bei Holz um einen nachwachsenden Rohstoff, und die Verwendung von regional verfügbarem Holz verträgt sich besonders gut mit der Idee einer kreislauforientierten Bioökonomie9.
Werden sich biobasierte Materialien im Bausektor durchsetzen?
Jun.- Prof. Dr.-Ing. Dahy mit einer Auswahl der von ihr entwickelten Biomaterialien in ihrem Büro am ITKE
© Viola Hoffmann
Statt auf Holz konzentriert sich die Juniorprofessorin Dr.-Ing. Hanaa Dahy, die seit 2016 die Abteilung „Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur (BioMat)“ am ITKE leitet, auf nachwachsende Rohstoffe wie Stroh als Ausgangsmaterial für die Herstellung biobasierter Baumaterialien. Stroh eignet sich deshalb so gut, da es massenhaft als Reststoff in der Getreideproduktion anfällt. „Das größte Problem bei der Verwertung von Stroh ist die niedrige Dichte und das große Volumen des Rohstoffes. Gleichzeitig hat Stroh einen hohen Silikat-Anteil. Letzteres kommt uns zugute, da die Silikat-Minerale quasi als natürliche Flammschutzmittel im Baumaterial fungieren“, erklärt die Juniorprofessorin. Ein weiterer Vorteil des Materials ist der günstige Einkaufspreis der Naturfasern. „Mit ca. 46 € pro Tonne ist Stroh sehr günstig. So lassen sich die Produktionskosten verringern und die Wettbewerbsfähigkeit steigern“, ist sich Dahy sicher.
Die größte Herausforderung im Bereich biobasierter Materialien im Bausektor besteht laut Dahy darin, die Akzeptanz solch innovativer, nachhaltiger Materialien am Markt zu steigern. Sie bemängelt, dass leider viele Kunden in dieser Branche die „grünen“ Materialien sofort mit einem gewissen Rückschritt hin zu Lehmhäusern o.a. verbinden würden. „Hier bedarf es gutem Marketing, damit die Vorteile der umweltfreundlichen Baumaterialien deutlich werden und Vorurteile abgebaut werden können“, merkt sie an. Letztlich ist sie sich jedoch sicher, dass sich die biobasierten Materialien in Zukunft durch ihre ästhetischen und funktionellen Werte, durch die effiziente Kombination von digitalen und robotischen Fertigungstechnologien, aber vor allem durch ihren ökologischen Mehrwert am Markt etablieren werden. „Dafür spricht nicht nur das Interesse, dass uns aus der Industrie für unsere Forschung und unsere Materialien entgegengebracht wird,“ merkt die Juniorprofessorin abschließend an.