Gerd Jürgens – von der Modellfliege zur Modellpflanze
Es gibt Wissenschaftler, die haben ein besonderes Gespür für neue, aufregende Forschungsthemen. Zu dieser Kategorie gehört auch der Tübinger Entwicklungsbiologe Professor Dr. Gerd Jürgens. Sein mutiger Schritt von der hochdekorierten Fruchtfliege zu einer unscheinbaren Grünpflanze wurde vor kurzem mit der Berufung zum Max-Planck-Direktor belohnt.
Als Gerd Jürgens erstmals ankündigte, dass er seine wissenschaftliche Laufbahn der Erforschung einer kleinen, landwirtschaftlich unbedeutenden Pflanze namens Arabidopsis thaliana widmen möchte, erntete er nur fassungsloses Kopfschütteln. Damals, Anfang der 80er Jahre, arbeitete der promovierte Biologe in Heidelberg am Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium (EMBL) in der Gruppe von Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus, die gerade ihre bahnbrechenden Untersuchungen zur Embryonalentwicklung der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) durchführten. Und dieser forsche Post-Doc behauptete nun allen Ernstes, dass sich die Aufregung um die Fliege bald wieder legen würde, weshalb er auf der Suche nach einer neuen wissenschaftlichen Herausforderung sei. „Janni (Anmerk.: Christiane Nüsslein-Volhard) hat mich angeschaut, als wäre ich von einem anderen Stern“, erinnert sich Jürgens lachend, „und Eric fragte nur 'Ara-what?' .“
Professor Dr. Gerd Jürgens
© Bochum / BioRegio STERN
Die spätere Nobelpreisträgerin hat ihrem jungen Mitarbeiter die gewagte These offensichtlich nicht übel genommen. Denn als Nüsslein-Volhard kurz darauf nach Tübingen ans Friedrich-Miescher-Laboratorium wechselte, nahm sie Jürgens kurzerhand mit - unter einer Bedingung allerdings: das Grünzeug komme ihr nicht ins Haus. Jürgens fügte sich den Vorstellungen seiner Chefin, aber die Begeisterung für die Ackerschmalwand, wie Arabidopsis thaliana umgangssprachlich heißt, ließ ihn nicht mehr los.
Jetzt, ein Viertel Jahrhundert später, hat der Naturwissenschaftler mit seinem Kraut doch noch unter dem Dach der früheren Mentorin Einzug halten dürfen. Im September 2008 wurde Jürgens - inzwischen einer der weltweit führenden Pflanzengenetiker - als Direktor ans Tübinger Max-Planck-Institut (MPI) für Entwicklungsbiologie berufen, wo Nüsslein-Volhard seit Jahren schon die Abteilung für Genetik leitet. Die Grande Dame des MPI hat es sicherlich leichten Herzens verschmerzt. Schließlich sind beide Forscher seit ihrer Heidelberger Zeit eng miteinander befreundet.
Grüner Geheimtipp
Nachdem Jürgens in Tübingen unter Nüsslein-Volhards Regie noch einige Jahre sehr erfolgreich an Fruchtfliegen geforscht hatte, machte er 1986 seine vollmundige Ankündigung doch noch wahr. „Arabidopsis galt damals unter den Biologen als Geheimtipp“, erzählt Jürgens. Bereits 40 Jahre vorher hatte der Botaniker Friedrich Laibach postuliert, die anspruchslose Pflanze mit dem kleinen Genom sei - ähnlich wie Drosophila - ein hervorragender Modellorganismus, um grundlegende biologische Prozesse zu erforschen. Trotzdem führte das Ackerunkraut lange Zeit ein wissenschaftliches Schattendasein.
„Irgendwann hörte ich, dass sich ein paar Institute in den USA mit Arabidopsis beschäftigten“, erzählt Jürgens. An einem von diesen wollte er nun das notwendige Handwerkszeug erlernen. Ausgestattet mit einem Auslandsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) reiste er schließlich nach Berkeley. Doch der Besuch vor Ort war für den Wissenschaftler sehr ernüchternd. „In deren Labor war noch gar nichts etabliert“, erinnert sich Jürgens mit Schrecken, „letzten Endes hatten die von der Pflanze sogar noch weniger Ahnung als ich.“ Nach kurzer Überlegung stand seine Entscheidung fest: „Wenn ich schon etwas komplett neu aufbauen muss, dann mache ich das lieber alleine.“
Furiose Garagenforschung
Zurück in Tübingen fand Jürgens am Biologischen Institut der Universität eine neue wissenschaftliche Bleibe. Mit der DFG verhandelte er unterdessen über eine Umwandlung der bereits genehmigten Gelder in ein Forschungsstipendium. Es funktionierte - an die Worte der zuständigen Sachbearbeiterin erinnert sich der Naturwissenschaftler aber noch heute sehr genau: „Um Himmels Willen, haben Sie sich den Wechsel vom Tier zur Pflanze auch gut überlegt, zumal in Ihrem Alter ?" Doch Jürgens - damals 37 Jahre alt - war wild entschlossen, das Wagnis einzugehen.
„Ich hatte viel Erfahrung aus der Drosophila-Forschung", weiß Jürgens, „und auch wenn sich das Vorgehen nicht Eins zu Eins übertragen lässt, so wusste ich doch, wie es prinzipiell funktionieren könnte." Trotzdem war der Anfang mehr als holprig. Die ersten Pflanzen züchtete der Biologe noch auf der Fensterbank seines Labors. „Das war damals richtige Garagen-Forschung", erzählt Jürgens schmunzelnd. Als ihm dann mittels chemischer Mutagenese aber die ersten phänotypisch veränderten Pflanzen gelangen, sorgte das sofort für Furore. Kein anderer Forscher hatte bis dato ein brauchbares Konzept entwickelt, mit dem sich Gene für die frühe Entwicklung von Pflanzen identifizieren ließen.
Leibniz-Preis schafft Räume
Mit dem Erfolg kamen auch die Angebote. 1989 erhielt Jürgens, inzwischen mit einer Forscherkollegin verheiratet, einen Ruf an die Universität München. „Da hatte ich dann zum ersten Mal in meinem Leben einen festen Job“, berichtet der Wissenschaftler. Und mit der neuen Sicherheit im Rücken, konnte er endlich durchstarten. Als er ein Jahr später die Ergebnisse seiner Mutantenscreens auf einer Arabidopsis-Tagung vorstellte, verspürte Jürgens unter den Teilnehmern eine wahre Goldgräberstimmung: „Die Drosophila-Forschung hatte sich inzwischen etabliert. Wer risikofreudig war, brauchte etwas Neues – und das war jetzt Arabidopsis.“
Bei der Zellteilung von Pflanzen (Cytokinese) spielen sowohl Mikrotubuli (rot) als auch das membranassoziierte Protein KNOLLE (grün) eine wichtige Rolle. Dabei zeigen sich zwischen Pflanzen des Wildtyps (a) und diversen Mutanten (b, c) zum Teil beträchtliche Unterschiede.
© Prof. Jürgens
Jürgens´ herausragende Arbeiten wurden auch an seiner alten Wirkungsstätte registriert. Zwei Jahre nach seinem Weggang offerierte ihm die Tübinger Universität den Lehrstuhl für Entwicklungsgenetik – und Jürgens war nicht abgeneigt. Doch die Rückkehr verlief alles andere als reibungslos, weil keine passenden Räumlichkeiten zur Verfügung standen. Eine Zwischenlösung am MPI für Entwicklungsbiologie erwies sich als äußerst kurzlebig, so dass Jürgens 1996 vor einer schwierigen Entscheidung stand. Die unbefriedigende Situation hatte sich in Kollegenkreisen herumgesprochen. „Sofort hatte ich mehrere Angebote aus den USA auf dem Tisch“, erinnert sich der Wissenschaftler. Doch Jürgens wollte eigentlich nicht weg – aus privaten Gründen. Der Vater seiner Frau war schwer erkrankt und brauchte Unterstützung. Jürgens empfindet es noch heute als glückliche Fügung, dass ihm kurz zuvor der renommierte Leibniz-Preis verliehen wurde: „Damit war die Uni unter Zugzwang geraten.“
Pflanzen finden eigene Lösungen
Plötzlich ging alles Schlag auf Schlag. Jürgens bekam ein neues Labor und 1997 wurde der Sonderforschungsbereich (SFB) „Mechanismen des Zellverhaltens bei Eukaryoten“ genehmigt, als dessen Sprecher er noch heute fungiert. Weitere zwei Jahre später gründete Jürgens mit Tübinger Kollegen schließlich das Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen (ZMBP): „Wir wollten hier ein bisschen das amerikanische System mit seinen eigenständigen Arbeitsgruppen kopieren, um auch unter Uni-Bedingungen ein gutes Forschungsumfeld zu schaffen.“ Der Plan ging auf. Das ZMBP lockte zahlreiche herausragende Studenten und Doktoranden an, die seither eine ganze Reihe richtungsweisender Arbeiten durchgeführt haben. „Viele meiner ehemaligen Mitarbeiter sind inzwischen selbst woanders Professoren“, berichtet Jürgens nicht ohne Stolz.
Seit er den neuen Direktorenposten am MPI für Entwicklungsbiologie inne hat, hat Jürgens auch keine Ambitionen mehr nochmals aus Tübingen wegzugehen. Die letzte große Versuchung war ein Angebot der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien im Januar 2006. Nach all den Jahren in der schwäbischen Universitätsstadt hätte sich der gebürtige Hildesheimer eine Luftveränderung durchaus vorstellen können. Doch das Engagement scheiterte letzten Endes an der Unvereinbarkeit des österreichischen und deutschen Rentensystems. „Dass ich diese Stelle ablehnen musste, daran hatte ich lange zu knabbern“, bekennt Jürgens freimütig.
Inzwischen ist sein Blick aber wieder nach vorne gerichtet – auch dank der neuen Aufgabe am MPI. Denn ein Ende der Arabidopsis-Forschung ist noch lange nicht in Sicht. Jürgens' neue Arbeitsgruppe am MPI wird sich vor allem mit der frühen Embryonalentwicklung beschäftigen. „Mittels molekularbiologischer Methoden wollen wir beispielsweise herausfinden, woher die Pflanze weiß, wo oben und unten ist“, berichtet der renommierte Wissenschaftler. Am ZMBP hingegen werden die zellbiologisch orientierten Arbeiten fortgeführt, die sich vor allem um regulatorische Prozesse in der Pflanzenzelle kümmern. Die speziellen Überlebensstrategien der Pflanzen begeistern Jürgens heute nämlich mehr denn je: „Das sind Lebewesen, die sich genau wie wir mit ihrer Umwelt auseinandersetzen müssen – und dabei halt im Detail zu etwas anderen Lösungen kommen.“