Intelligente Kleber nach dem Vorbild der Natur
Das sind keine Einschusslöcher eines Maschinengewehrs, sondern die Spuren des Wilden Weins. Kletterpflanzen von einer Hausfassade abzulösen, ohne hässliche Löcher im Putz zu hinterlassen, ist fast unmöglich. Wilder Wein, Efeu und Co. entwickeln unglaublich hohe Haftkräfte, wenn es darum geht, sich mit ihren Ranken an einer Oberfläche festzuhalten. Können Forscher die Prinzipien hinter diesem „Festkleben“ für technische Zwecke nutzen? Die Plant Biomechanics Group von Prof. Dr. Thomas Speck aus Freiburg versucht in einem ihrer Projekte, die Natur als Ideengeber für intelligente Klebeverbindungen zu nutzen. Mit ihren Methoden bekommen die Bioniker einen Blick auf geniale technische Lösungen im mikroskopischen Bereich. Zusammen mit Materialforschern wollen sie aber noch einen Schritt weiter gehen als die Natur.
Eine Ranke des Wilden Weins mit neun Haftpads.
© Karlsruher Institut für Technologie & Plant und Biomechanics Group Freiburg
Eine Ranke des Wilden Weins weist im Durchschnitt sieben bis neun sogenannte Haftpads auf. Ein Haftpad hat einen Durchmesser von rund drei Millimetern und schaut aus wie ein Köpfchen. Es kann sich am Putz der Mauer oder an der Rinde eines Baums anheften. Zieht ein Hausbesitzer an einer Ranke, um das Wuchern unter Kontrolle zu kriegen, dann bricht entweder die Ranke ab und die Haftpads bleiben kleben. Oder aber der Putz kommt mit von der Wand. Warum löst sich nie die ganze Ranke sauber ab?
„Kletterpflanzen wie der Wilde Wein oder der Efeu haben im Laufe ihrer Evolution biomechanische Strategien entwickelt, die es ihnen ermöglichen, sich optimal an Oberflächen anzuhaften“, sagt Prof. Dr. Thomas Speck, Leiter der Plant Biomechanics Group und des Botanischen Gartens der Universität Freiburg und Sprecher des baden-württembergerischen Kompetenznetzes Biomimetik. „Die einzelnen Arten machen das auf eine ganz unterschiedliche Art und Weise. Wir wollen diese Strategien bis ins mikromechanische und molekulare Detail hinein verstehen lernen, das Know-how für neuartige Klebeverbindungen nutzen und sogar einen Schritt weiter gehen als die Natur.“
Eine Spirale der Erkenntnis
Anwendungsbereiche für neue Kleber sind praktisch in jedem Industriezweig sofort zu finden. Speck nennt zum Beispiel die Automotive-Branche oder das Segment der Luft- und Raumfahrt. Schweißen und Löten geraten heute immer mehr in den Hintergrund, die Zukunft gehört den intelligenten Klebetechniken. Und auch im medizinisch-technischen Bereich finden sich mögliche Einsatzgebiete: Wie wäre es zum Beispiel, eine Wunde mit einem Material zu kleben, das nicht nur das Nähen obsolet macht, sondern mit der Zeit auch noch vom Hautgebwebe absorbiert wird und sich damit selbst entsorgt?
Um solche Visionen irgendwann Wirklichkeit werden zu lassen, haben Speck und seine Arbeitsgruppe sich im Rahmen des Förderprogramms „Molekulare Bionik“ des Landes Baden-Württemberg mit Physikern, Chemikern und Materialforschern von der Universität Freiburg zusammen getan. Die Biologen nehmen nun Kletterpflanzen genau unter die Lupe und versuchen, hinter das Geheimnis ihres Erfolgs zu kommen. Die Tricks des Wilden Weins und des Efeu haben sie schon heute weitgehend verstanden. Nun geht es an Exoten wie den Affenbaum, einen kletternden Gummibaum oder die Vanilleorchidee.
Mit einer solchen selbstgebauten Apparatur können die Bioniker um Prof. Dr. Thomas Speck aus Freiburg Kräfte und Kraftwege messen, die beim Festhaften von Kletterpflanzen eine Rolle spielen.
© Plant Biomechanics Group Freiburg
„Wir sind in erster Linie Biomechaniker und Funktionsmorphologen“, sagt Speck. „Wir liefern das Verständnis und die Abstraktion der Strategien unserer biologischen Vorbilder. Unsere Kollegen von der Makromolekularen Chemie und der Makromolekularen Physik in Freiburg sowie der Materialforschung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) arbeiten dann an der Umsetzung.“ Eine Einbahnstraße ist der Arbeitsprozess laut Speck aber nicht. Das Entscheidende ist ein Schritt, den er als Reverse Bionik bezeichnet. Denn haben die Kooperationspartner erst Materialien gefunden und charakterisiert, die ähnliche Eigenschaften wie die biologischen Idole aufweisen, führen sie ihr Know-how wieder zurück in den Erkenntnisprozess der Biologen. Diese können so die Natur vielleicht von einer neuen Seite betrachten und damit noch besser verstehen lernen. „Es ist im Prinzip immer eine Spirale der zunehmenden Erkenntnis“, sagt Speck. „Bionische Forschung ist heute ohne diesen engen und ständigen Austausch zwischen den verschiedenen Disziplinen nicht möglich, und da sind wir froh, dass wir in den letzten Jahren mit unseren Kollegen eine immer besser funktionierende gemeinsame Sprache entwickelt haben.“
Schraube, Haken, starke Kleber
Die Mikroskopaufnahme eines Haftpads des Wilden Weins, wie es sich mit dem blau gefärbten Kleber an eine Oberfläche anhaftet.
© Karlsruher Institut für Technologie & Plant und Biomechanics Group Freiburg
Welche Erkenntnisse über die natürlichen Vorbilder haben Speck und Co. bereits erlangt? Mithilfe von Elektronenmikroskopen, Hochgeschwindigkeitskameras und selbstentwickelten Apparaturen, die Kräfte und Kraftwege im mikroskopischen Bereich messen können, haben die Biologen den Prozess der Anhaftung des Wilden Weins und des Efeus in den Grundzügen aufgeklärt. Ein Haftpad des Wilden Weins etwa kann rund 600 Gramm Gewicht tragen, wenn es sich einmal festgeklebt hat.
Möglich wird das, weil die Zellen seiner Unterseite zum einen in die mikroskopischen Vertiefungen in der Hauswand oder der Baumrinde hineinwachsen. Zum anderen sezernieren sie eine klebrige Flüssigkeit, die bei Kontakt mit der Oberfläche sofort hart wird. „Die Kleber von Wildem Wein und Efeu härten so schnell aus und sind anschließend so reaktionsträge, dass es unseren Kooperationspartnern vom Tübinger Institut für Organische Chemie bisher unmöglich war, ihre chemische Struktur aufzuklären“, sagt Speck. Ein gutes Zeichen, was die Klebequalität anbelangt. Fürs Nachmachen jedoch eine Hürde. In Zukunft wollen die Forscher die Substanzen direkt aus den kleinen Vesikeln in den Zellen der Haftpads und Efeuwurzeln extrahieren und sie untersuchen, bevor die Materialien hart werden.
Das Wurzelhaar des Efeus verdrillt und verkürzt sich, während es in einer Vertiefung der Hauswand oder der Baumrinde austrocknet.
© Plant Biomechanics Group Freiburg
Ein eindrückliches Beispiel für die Genialität der Natur stellt der Efeu dar. Efeu klettert mithilfe von Wurzeln. Diese Wurzeln weisen Wurzelhärchen auf, die einen Durchmesser von 10-15 Mikrometer und eine Länge von 100-200 Mikrometer haben. Jedes Wurzelhaar besteht aus einer einzelnen Zelle und weist auf seiner Oberfläche Vesikeln mit einer klebrigen Flüssigkeit auf. Regelmäßig angeordnete Zellulosemikrofibrillen in der Wand des Wurzelhaars sind schraubig angeordnet. Diese Zellulosemikrofribillen stehen in einem Winkel von ca. 40 Grad zur Längsachse. Nur im letzten Bereich an der Spitze des Härchens beträgt der Winkel etwa 55 Grad.
Speck und sein Team haben den Vorgang des Festhaftens genau nachvollzogen. Ein Wurzelhaar wächst in eine mikroskopische Vertiefung der Hauswand oder der Baumrinde hinein. Bei einer Berührung mit der Umgebung platzen die Vesikel mit dem Kleber auf; das Härchen haftet sich fest. Im Verlauf des Prozesses trocknet das Härchen aus. Aufgrund der Anordnung der Zelluloseverstärkungen zieht es sich schraubig zusammen und verkürzt sich. Weil der Winkel des letzten Bereichs größer ist als die anderen Winkel, krümmt sich die Haarspitze zu einer Art Haken, der noch zusätzlichen Halt im Inneren der Oberflächenvertiefung bietet. Durch die Verkürzung des Härchens wird der ganze Efeutrieb näher an die Hauswand oder die Baumrinde gezogen.
Steuerbare Klebeeigenschaften?
Mithilfe von Techniken wie dem Elektrospinnen, das dazu dient, feinste Materialfasern herzustellen, haben die Kooperationspartner von der Materialforschung und der Makromolekularen Chemie bereits erste Materialien hergestellt, die sich ähnlich verhalten. „In Zukunft wird es aber auch darum gehen, die Materialien besser und intelligenter zu machen als das Vorbild in der Natur“, sagt Speck. Ist es möglich, Kleber herzustellen, die auf Kommando aushärten und sich wieder lösen können? Ein Ansatz wäre, Materialien so zu modifizieren, dass sie nach UV-Einstrahlung oder bei Temperaturveränderungen ihre Eigenschaften reversibel ändern können. Eine andere Zukunftsvision ist die Koppelung eines Klebers mit einem Farbindikator, der dem Anwender zeigt, wie gut der Kleber bereits ausgehärtet ist, beziehungsweise ob Fehlklebestellen aufgetreten sind.
Solche Anwendungen sind durchaus realistisch. Im Laufe dieses Jahres wollen Speck und seine Partner einen ersten Demonstrator für eine intelligente Klebeverbindung vorzeigen können. In den folgenden anderthalb Jahren möchten sie dann einen Prototyp in der Hand halten. Erste Firmen sind schon jetzt interessiert. Für eine industrielle Verwertung muss freilich auch noch die Kostenhürde genommen werden, denn es reicht nicht aus, wenn ein Kleber intelligent ist; er muss auch billig sein. „Aber solche Fragen werden sich uns erst in weiterer Zukunft stellen“, sagt Speck. In den Blickwinkel der Forscher aus dem Bereich der grundlagennahen Bionik kommen jetzt erst mal noch Affenbaum, Gummibaum und Vanille. Nach welchen Prinzipien haften diese? Und wie kann man das noch besser machen?