Nützliche Genomsequenzierungen bei Algen
Sequenzanalysen kompletter Genome sind mittlerweile auch für die Algenforschung unentbehrlich geworden. Ihre Ergebnisse geben Aufschluss über die Evolution der unterschiedlichen Algengruppen. Sie tragen zum Verständnis der molekularen Anpassungsmechanismen an den Klimawandel bei und erschließen ein Potenzial an neuen wirtschaftlich wichtigen Produkten und Technologien.
Neue Sequenzierungstechniken wie das sogenannte „Next Generation Sequencing“ machen es möglich, komplette Genome in kurzer Zeit und, im Vergleich zu früher, geringen Kosten zu analysieren. Davon profitieren auch Bereiche der Biologie, denen es häufig an Geld und teuren Instrumenten fehlt, da sie – anders als üblicherweise die „rote“, „grüne“ und „weiße“ Biotechnologie – nicht im Visier mächtiger Wirtschaftszweige wie der Pharma- und Agroindustrie und der Chemie liegen.
Zu diesen lange Zeit eher abseits des „Mainstreams“ gelegenen Forschungsgebieten der Biologie gehört die Algenkunde (Phykologie). Obwohl die Phykologen immer wieder auf die enorme ökologische und die stetig wachsende ökonomische Bedeutung der Algen hingewiesen haben: auf ihre Rolle als Sauerstofflieferanten und Primärglieder der größten Nahrungsketten der Welt, als Viehfutter und Düngemittel und - besonders in Ostasien - auch als Nahrungsmittel für den Menschen. Sowie als Produzenten von Rohstoffen wie Carrageen, Agar und Agarose, von Alginen und Alginaten, ohne die eine moderne Nahrungsmittel- und Kosmetikindustrie kaum möglich wäre und auf die kein Zellkulturlabor verzichten kann.
„Phyko-Genomik“
Phaeodactylum tricornutum, eine in drei unterschiedlichen Formen vorkommende Kieselalge, deren Genom sequenziert worden ist.
© A. Gruber, Universität Konstanz
Mit den Fortschritten und Kostenreduktionen in den Sequenzierungstechniken konnten in den letzten Jahren nun auch die Genome von Vertretern wichtiger Algengruppen entziffert werden. Weiterhin befinden sich eine ganze Reihe von Sequenzierungsprojekten, nicht nur von sogenannten „Modell-Algen", in der Pipeline. Die Ergebnisse bringen neue Erkenntnisse über die Evolutionsgeschichte dieser Organismen und über ihre dominanten Funktionen in den Ökosystemen des Meeres hervor. Man erhofft sich auch, diese Erkenntnisse wirtschaftlich nutzbar zu machen.
Während in den USA das Joint Genome Institute des Department of Energy die Federführung für die meisten Algenprojekte übernommen hat, erhielt die Algenforschung in Europa besonders durch das im 6. Forschungsrahmenprogramm der EU 2004 bis 2008 geförderte Exzellenznetzwerk „Marine Genomics Europe" (MGE) Auftrieb. Am MGE waren 45 Institutionen aus 14 europäischen und zwei nicht europäischen Ländern beteiligt, darunter auch die Teams von Detlev Arendt und Jan Ellenberg am Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium in Heidelberg. Wichtige Beiträge zur Entschlüsselung von Algengenomen wurden vor allem von Dr. Klaus Valentin und seinen Mitarbeitern am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) geleistet.
Öle aus Algen als Diesel-Ersatz?
Innerhalb eines großen internationalen Konsortiums waren die Forscher an der vollständigen Entschlüsselung des Erbguts der Kieselalge Phaeodactylum tricornutum beteiligt. Kieselalgen (Diatomeen oder Bacillariophyceae) gehören zum Phytoplankton an der Basis der Nahrungs- und Stoffwechselketten im Meer und nehmen dort eine herausragende Rolle ein. Man schätzt, dass sie für 40 Prozent der Photosynthese im Meer verantwortlich sind. Bildhaft gesprochen wird jedes fünfte Sauerstoffmolekül, das wir einatmen, von diesen mikroskopisch kleinen, einzelligen Algen produziert.
Diatomeen sind nach heutiger Auffassung der Zell- und Evolutionsbiologen sogenannte sekundäre Endosymbionten. Dieser Theorie zufolge erhielten sie in grauer Vorzeit ihre Chloroplasten mit dem Photosynthese-Apparat nicht durch Endosymbiose mit prokaryontischen Cyanobakterien, wie man es von den grünen Pflanzen und den Grün- und Rotalgen annimmt, sondern sekundär durch Inkorporation einer einzelligen, eukaryontischen Rotalge. Die Wissenschaftler am AWI konnten aber zeigen, dass P. tricornutum ein breites Spektrum an Photosynthese-Genen besitzt, die von unterschiedlichen Zelltypen, darunter auch Grünalgen, stammen. Das könnte den biologischen Erfolg dieser Planktongruppe erklären. Die Interpretation der Genomdaten wurde dadurch erleichtert, dass die DNA-Sequenzen einer anderen Kieselalge, Thalassiosira pseudonana, bereits publiziert worden waren, sodass man Vergleiche anstellen konnte.
Volvox carteri (links) und Chlamydomonas reinhardtii - zwei Grünalgen, deren Genome sequenziert worden sind.
© Washington University
Besonderes Interesse finden die am Fettstoffwechsel beteiligten Gene. Denn die Fähigkeit der Kieselalgen, hochwertige Öle wie zum Beispiel Omega-3-Fettsäuren zu synthetisieren, könnte große wirtschaftliche Bedeutung erlangen. Diese Öle, die zum Beispiel Meeresfische als Nahrungsquelle des Menschen so wertvoll machen, stammen tatsächlich zum größten Teil aus diesen Algen. Neuerdings sind die Diatomeen in das Blickfeld von Energieproduzenten geraten, die sich für ihre Öle als erneuerbaren Biokraftstoff („Biofuel") interessieren.
Für neue Biofuel-Quellen interessiert sich in den USA natürlich besonders das Department of Energy, an dessen Joint Genome Institute das Genom der Süßwasseralge Volvox carteri sequenziert wurde. Volvox ist eine Grünalge (Chlorophyta) und ein früher Vorfahr, aus dem unter anderem die grünen Landpflanzen hervorgegangen sind. Sie war den Biologen bisher vor allem als einfacher Modellorganismus für Vielzelligkeit bekannt.
Die Alge besteht aus einer Gallertkugel, in die eine kleine Anzahl von fortpflanzungsfähigen Keimzellen und Hunderttausende von nicht-reproduktiven somatischen Zellen eingebettet sind. Volvox ist eng mit Chlamydomonas verwandt, einer einzelligen, vielfach im Labor gehaltenen Grünalge, die ebenfalls intensiv auf ihr Potenzial als Biofuel-Produzent erforscht wird. Deren Genom war bereits 2007 von der gleichen Institution publiziert worden.
Braun- und Rotalgen
Man sieht es ihnen zwar nicht an, aber Braunalgen (Phaeophyceae), die den Kelp - die riesigen Tangwälder an den Felsküsten der polaren und gemäßigten Meere - bilden und Längen von bis zu 160 Metern erreichen können, sind mit den winzigen Kieselalgen verwandt. Das hatten vergleichende Entwicklungsbiologen und Biochemiker schon vor Jahrzehnten erkannt, und es wurde jetzt mit der ersten vollständigen Genomsequenzierung bei einer Braunalge - Ectocarpus siliculosus - bestätigt. „In den Braunalgen haben wir einen hohen Anteil von Genen gefunden, die charakteristisch für Grünalgen sind, darunter auch die für vielzellige Landpflanzen typischen Gene für Kinasen und Transporterproteine“, erklärte Klaus Valentin, der auch an diesem internationalen Kooperationsprojekt beteiligt war (Zitat: AWI, 03.06.10). Diese Ergebnisse lassen sich am besten durch die Theorie erklären, dass Braunalgen wie auch die Kieselalgen als sekundäre Endosymbionten durch Fusion einer Grünalge mit einer Rotalge entstanden sind und nicht, wie bisher meist angenommen, durch Fusion einer einzelligen Rotalge mit einer photosynthetisch inaktiven Zelle.
Das Erbgut der Braunalgen wird auch unter ökologischen Gesichtspunkten intensiv studiert. Viele Arten zeichnen sich durch extreme Stresstoleranz aus, eine Anpassung an das Leben in den Gezeitenzonen, in denen sie oft stundenlang trockenliegen und intensiver Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind. Diese genetische Anpassungsfähigkeit an UV-Licht und hohe Temperaturen interessiert die Forscher vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Klimawandels. Der äußerst vielseitige Metabolismus dieser erdgeschichtlich uralten Organismengruppe ist bisher im Detail kaum bekannt. Man kann davon ausgehen, dass sich aus seiner Erforschung Ansätze für neue Produkte und Technologien ergeben, die weit über die bisher aus Braunalgen gewonnenen Algine und Alginate hinausgehen.
Auch von einem Vertreter der zweiten großen und wirtschaftlich wichtigen Algengruppe, die eine Entwicklung zu komplexen Vielzellern eingeschlagen hat, den Rotalgen (Rhodophyta), ist jetzt das Genom vollständig sequenziert. Allerdings sind die Daten noch nicht publiziert worden, da an der Auswertung noch gearbeitet wird. Zwar hatten japanische Wissenschaftler bereits 2004 das Erbgut einer Rotalge entziffert, doch handelt es sich dabei um eine vermutlich wenig repräsentative Extremform: Die einzellige Rotalge Cyanidioschyzon merolae kommt in heißen, schwefelhaltigen Quellen vor und besitzt mit nur 16,5 Millionen Basenpaaren das kleinste Genom aller photosynthetisch aktiven Eukaryonten, das wir kennen.
Algenblüten
Bei einigen Arten aus weniger bekannten Algengruppen sind in der letzten Zeit die Genome ganz oder teilweise entziffert worden. Dazu gehört Aureococcus anophagefferens (publiziert am 21.02.2011 in der Zeitschrift PNAS), ein unscheinbarer Vertreter des küstennahen Phytoplanktons. Aureococcus ruft von Zeit zu Zeit und in den letzten Jahren verstärkt „Algenblüten“ hervor, durch die das gesamte betroffene Ökosystem geschädigt und Fischfang und Muschelernte der Region zerstört werden kann. Er vermehrt sich bei einer solchen Algenblüte bis Milliarden von Zellen pro Liter vorkommen und das Meer über weite Strecken rot färben. Die Forscher hoffen, dass sie aus der Kenntnis der Gene Antworten auf die jahrzehntelang unbeantworteten Fragen finden, warum und wann es zu der Massenvermehrung kommt und welche Faktoren dazu führen, dass diese Alge kurzzeitig über alle anderen Organismen dominieren kann. Der Frage, wie das Wachstum des Phytoplanktons und das Auftreten der Algenblüten durch den Klimawandel – die Erwärmung und Versauerung der Meere durch den steigenden CO2-Gehalt der Atmosphäre - beeinflusst wird, geht auch Dr. Björn Rost vom AWI mit seinem Projekt „PhytoChange“ nach, das mit einem Independent Investigator Grant durch den Europäischen Forschungsrat gefördert wird.
Bei allen Fortschritten, die es in der Molekularbiologie der Algen in den letzten Jahren gegeben hat, sind die Studien bislang nur auf einen winzigen Ausschnitt aus der immensen Vielfalt dieser Organismen beschränkt. Die Forscher schätzen, dass 90 Prozent aller Arten des Phytoplanktons noch unbekannt sind. Erst vor einigen Jahren entdeckten sie anhand von Sequenzanalysen der 18S-ribosomalen DNA und Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung eine völlig neue Algengruppe, die sich keiner der bisher bekannten Eukaryontengruppen zuordnen lässt, wie die Ko-Autoren der Studie, Dr. Klaus Valentin und Dr. Linda Medlin, erklärten. Diese Picobiliphyten genannten Algen sind nur wenige Mikrometer groß und gehören damit zu den kleinsten Vertretern des pflanzlichen Planktons. Sie sind ein Beispiel dafür, was in den Meeren mit Hilfe molekularer Methoden alles noch entdeckt werden kann.