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Bionik

Pflanzen als Vorbilder für selbstreparierende Materialien

Welch verlockende Idee: Alltagsprodukte, die sich selbst reparieren. Noch ist das zwar Zukunftsmusik, aber die Grundlagen dazu erforscht Dr. Olga Speck an der Universität Freiburg. Die Botanikerin untersucht dazu die Wundheilungsreaktionen bei Pflanzen. Ihr Ziel: Mechanismen entdecken, die als Vorbild dienen können für die Entwicklung von Materialien mit „Selbstheilungskräften“.

Dr. Olga Speck © privat

Für Bioniker ist die Natur eine unerschöpfliche Inspirationsquelle, denn Tiere und Pflanzen haben sich im Laufe ihrer Jahrmillionen währenden Evolution perfekt an ihre jeweiligen Lebensräume angepasst. Dabei geht es bei der Bionik nicht um eine direkte Übertragung der beobachteten Mechanismen, sondern um eine kreative Umsetzung in die Technik. Ein klassisches Beispiel der Bionik ist der Klettverschluss: Die elastischen Häkchen der Klettfrüchte haften im Fell vorbeistreifender Tiere und waren Vorbild für das Haken- und das Flauschband. Die entsprechende „Neuerfindung“ der Bionik ist als Schuhverschluss beliebt und beglückt Kleinkinder und Mütter gleichermaßen.

Doch die Bionik hat mehr zu bieten als solche gut bekannten Beispiele: „Es gibt etliche hidden champions“, bestätigt die Botanikerin Olga Speck von der Universität Freiburg. Ihr Pilotprojekt lautet „Bio-inspirierte selbstreparierende Werkstoffe für eine nachhaltige Entwicklung“. Hier untersucht Speck vom Botanischen Garten Freiburg zusammen mit ihren Kollegen vom Fraunhofer-Institut EMI die Wundheilungsreaktion bei Pflanzen und schätzt das Nachhaltigkeitspotenzial selbstheilender Produkte ab. Das Projekt ist eingebettet in das Freiburger Leistungszentrum Nachhaltigkeit, einen Zusammenschluss der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit den fünf Freiburger Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft.

Pflanzen als Ideengeber

Für das aktuelle Projekt hatten sich Speck und ihre Mitarbeiter von vorneherein auf Pflanzen beschränkt, die an trockenen Standorten wachsen: „Solche Pflanzen müssen ihren Flüssigkeitshaushalt streng kontrollieren. Werden sie verletzt, verlieren sie Wasser und trocknen aus, das heißt, sie stehen unter einem hohen Selektionsdruck entsprechende Schutzmechanismen zu entwickeln“, erklärt Speck. Systematisch gingen die Biologen die infrage kommenden Pflanzenarten im Botanischen Garten Freiburg durch und unterzogen sie einem Test: „Wir haben die Blätter mit Rasierklingen angeschnitten und geschaut, was passiert“, erinnert sich Speck. Bei den meisten Pflanzen konnten die Forscher keine Reaktion erkennen, doch bei der Mittagsblume aus Südafrika (Delosperma cooperi), einer Sukkulenten, die Wasser in ihren Blättern speichert, entdeckten sie eine ungewöhnliche Reaktion.

Bestand der Mittagsblume Delosperma cooperi im Botanischen Garten der Universität Freiburg. © Plant Biomechanics Group Freiburg

Schneidet man in ein Blatt, fängt das verletzte Blatt an sich zu bewegen. Die angefertigten Serienbilder gaben Aufschluss: „Nach 60 Minuten treffen die Wundränder aufeinander und die Wunde ist versiegelt“, sagt Speck, die ein solches Phänomen zuvor noch nie beobachtet hatte. „Für Pflanzen ist das wirklich schnell.” Die Forscher schnitten die Blätter nicht nur längs und quer ein, sondern auch ringsherum. Zum Erstaunen der Biologen zog sich das Blatt daraufhin zusammen und die Wunde war verschlossen. Die Intensität der Bewegungen ist dabei abhängig von der Luftfeuchtigkeit: Je geringer die Luftfeuchtigkeit, desto ausgeprägter ist die Bewegung.

Die Entdeckung mag für Laien wenig spektakulär klingen. Aber das glatte Aufeinandertreffen der Wundränder ist ein grundlegend wichtiger Schritt der Wundheilung: Nur dann ist die Wunde versiegelt und nur dann kann sie in einem zweiten Schritt auch heilen. Doch wie macht die Pflanze das? Und wie kann ein solcher Mechanismus technisch umgesetzt werden?

Das 5-Schalen-Modell

Montage aus einem geheilten Blatt der Modellpflanze Delosperma cooperi und einem Computermodell. © Plant Biomechanics Group Freiburg und Fraunhofer EMI

Speck und ihre Mitarbeiter führten umfassende morphologisch-anatomische Untersuchungen durch. Die Biologen fanden heraus, dass die Blätter der Mittagsblume aus fünf konzentrisch angelegten Gewebeschichten bestehen, die unterschiedlich dick sind und unterschiedliche mechanische Eigenschaften aufweisen.

Ein Schnitt oder eine natürliche Verletzung – etwa von durstigen Vögeln, die an den Blättern picken – führt in den äußeren, wasserspeichernden Schichten zu einem Verlust der Druckspannung. Dies löst die Bewegung des Blattes aus. Das Blatt bewegt sich so lange, bis sich ein neues mechanisches Gleichgewicht im Blatt eingestellt hat. Nun ist die Wunde versiegelt und es kann kein Wasser mehr austreten.

Um den biologischen Mechanismus in die Technik umzusetzen, braucht es neben dem Know-how von Biologen auch die Fachkenntnis von Physikern, Bioinformatikern und Ingenieuren. Da diese erste Phase der Wundheilung hauptsächlich durch physikalische und chemische Prozesse erfolgt, kann sie sowohl mit mathematischen Formeln als auch als Computermodell dargestellt werden. Aus der interdisziplinären Zusammenarbeit ist ein sogenanntes 5-Schalen-Modell der Wundheilung entstanden. Mit dem Vorbild aus der Natur hat dieses digitale „Pflanzenblatt“ allerdings nicht mehr viel gemein. „Man muss sich vom biologischen Vorbild lösen und das Funktionsprinzip extrahieren. Nur dann gelingt die technische Umsetzung“, so Speck.

Ingenieure können mit dem Modell nun – abhängig vom technisch gewünschten Schichtmaterial – verschiedene Versiegelungsmechanismen durchspielen. Sie variieren dabei die Dicke, das Material und die Eigenschaften der unterschiedlichen Schalen. Die Ergebnisse von Speck und ihren Kollegen vom Fraunhofer-Institut EMI sind kurz davor veröffentlicht zu werden. Eine konkrete Anwendung ist momentan allerdings noch nicht bekannt. „Der Einsatzbereich ist sehr groß. Wir sind selbst gespannt, welches Produkt sich einmal auf diese Weise selbst reparieren wird“, sagt Speck.

Grafik, die das Zusammenwirken von Biologie und Ingenieurwissenschaften im Pilotprojekt „Selbstreparierende Werkstoffe“ darstellt
Zusammenwirken von Biologie und Ingenieurwissenschaften im Pilotprojekt „Selbstreparierende Werkstoffe“ © Fraunhofer EMI

Nachhaltigkeit durch Selbstreparatur

Ein Produkt haben die Freiburger Bioniker bereits erfolgreich zur Industriereife gebracht: Eine sich selbst reparierende Schaumbeschichtung. Die Beschichtung verhindert den Luftaustritt aus beschädigten Membranen, wie sie in der Tensairity®-Technologie, einer aufblasbaren Leichtbautragstruktur, eingesetzt werden. „Damals hatten wir eine konkrete Anfrage erhalten und hatten in der Liane das ideale Vorbild für das Problem gefunden“, sagt Speck. Denn während Lianen wachsen, entstehen in ihrem Stamm immer wieder Risse, die schnell wieder verschlossen werden, indem Zellen dort einwandern und aufquellen.

Die Botanikerin möchte mit ihrer Forschung grundsätzlich auch einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten: „Die Reparatur oder noch besser die Selbstreparatur von Produkten“, sagt Speck, „ermöglicht einen schonenderen Umgang mit Ressourcen.“

Seiten-Adresse: https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/pflanzen-als-vorbilder-fuer-selbstreparierende-materialien