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Rezension: Die Biotechnologie-Industrie

Die deutsche Biotechnologie-Industrie wird in diesen Wochen 20 Jahre alt und hat seit Kurzem eine Chronistin. Julia Schüler, langjährige ehemalige Autorin des deutschen Ernst & Young Biotechnologie-Reports, hat viele Zahlen und Fakten zusammengetragen und in ein Buch mit dem Titel „Die Biotechnologie-Industrie“ gepackt. Tatsächlich sucht sie nach Gründen für den Erfolg, der die USA zur Biotech-Supermacht in den letzten 40 Jahren gemacht hat. Und sie findet auch Antworten darauf, warum Deutschlands Biotech-Wirtschaft dem transatlantischen Vorbild hinterherhinkt.

Volkswirtschaftlich bedenklich ist das aus Schülers Sicht deshalb, weil die Biotechnologie als eine der Schlüsseltechnologien dieses Jahrhunderts gilt, von der die Allgemeinheit nur sehr wenig weiß. „Infolgedessen wird auch die Einschätzung der Bedeutung der Biotech-Industrie schwer fallen oder negativ sein.“ (S. 3) Ihr Anliegen ist es deshalb, die Biotechnologie als wichtige, branchenübergreifende Technologie wahrzunehmen. Eine kritisch-distanzierte Bewertung dieser Hochtechnologie darf der Leser also nicht erwarten, vielmehr ein engagiertes faktenreiches Plädoyer für den Einsatz dieser Querschnittstechnologie.

Für schnelle wie gründliche Lektüre geeignet

Cover des 2016 erschienenen Kompendiums von Julia Schüler. © Springer Spektrum

Schülers Buch ist schlüssig gegliedert. Mit Entstehung, Status quo sowie Anwendungsfeldern und Märkten der Biotech-Industrie beschäftigt sich der erste Teil, der großteils die US-Biotech-Erfolgsgeschichte nachzeichnet. Der zweite Teil widmet sich der deutschen Biotech-Historie und der aufkommenden Industrie. Für den schnellen Leser startet jedes Kapitel mit einem Resümee und endet mit Literatur- und Quellenangaben. Viele Abbildungen und Tabellen dürften Branchenkenner oder Journalisten ins Schmökern bringen. Querlesern kommt entgegen, dass das Inhaltsverzeichnis so fein gegliedert ist und Kernbotschaften ausformuliert, dass es eine Art Vorab-Lektüre ermöglicht. Die knapp 450 Seiten wollen als Einführungs-, Übersichts- und Nachschlagewerk gelesen werden. Viele Ansprüche auf einmal, zu viele? Nicht unbedingt, denn Schülers Zielgruppen Investoren, branchenfremde Unternehmer, Journalisten und Politiker bedient das Kompendium gleichermaßen, indem sie unterschiedliche Lektürezugänge schafft.

Schülers Einstieg („Was ist Biotechnologie eigentlich?“) zeigt, wie schwer sich eine Hochtechnologie allgemein verständlich beschreiben lässt: Satte zehn Seiten füllen Definitionen von traditioneller, klassischer und moderner Biotechnologie, ehe ein geschichtlicher Abriss ihren Weg vom Labor in die Fabrik skizziert. Trotz aller Informationsdichte liest man das mit Gewinn, weil die Autorin laientauglich formuliert.

Die langen Schatten der Geschichte

Julia Schülers Buch will erklären und verstehen, „warum die deutsche Biotechnologie und Biotechnologie-Industrie da stehen, wo sie heute stehen“ – nämlich deutlich hinter den USA. Die Erkenntnis ist zwar nicht neu, dass dieser Rückstand im Zivilisationsbruch der Nazi-Barbarei seine folgenreichste Ursache hat und noch mindestens zwei Jahrzehnte bundesrepublikanische Geschichte (313ff.) bestimmte. Aber der historische Rekurs hilft die mitunter als unbefriedigend empfundene deutsche Biotech-Wirklichkeit zu erklären, gipfelnd in einem Ratschlag an die US-fixierte Sichtweise der hiesigen Branche: „Der Vergleich mit den USA hinkt allerdings insofern immer wieder, da nicht außer Acht gelassen werden darf, dass einige der heute bereits etablierten US-Firmen (...) viel früher gegründet und in der Regel stets ausreichend mit Eigenkapital finanziert wurden (...) In den frühen Jahren der jeweiligen Branchen (bis zu 15 Jahre nach der Gründung) verlief die Umsatzentwicklung pro Unternehmen bei den US-Gesellschaften nicht sehr viel anders als bei den deutschen Firmen“(S. 428).

Aufmunterung für die verspätete Biotech-Nation

Im Grunde lässt sich Schülers Buch auch als eine Aufmunterung für die deutsche Biotech-Branche lesen. Jedoch ist dieser Industriezweig deutlich jünger, zählt weniger Unternehmen und ist schlechter finanziert, was für die teure, langwierige und riskante Medikamentenentwicklung nachteilig ist. Deshalb, so Schüler weiter, haben hierzulande erst jetzt neuartige Medikamentenkandidaten die Endphase der Entwicklung erreicht.

1978 konnte der erste Tropfen gentechnisch hergestellten Humaninsulins gewonnen werden. © Lilly Pharma

Die Autorin ist biologisch versierte Ökonomin, was vorteilhaft ist, wenn sie die nicht immer lineare US-Entwicklung von einigen Hightech-KMUs zu einer milliardenschweren Branche aus Analysten-Sicht nachzeichnet. Auch Branchenriesen waren klein, kämpften in ihren Anfängen: So standen beispielsweise Amgen 1982 und Biogen 1984 kurz vor der Insolvenz (S. 371). Schülers Resümee, wohl als Wink für alle Branchenfremden (inklusive Politiker) und Investoren zu verstehen: Bei aller wissenschaftlichen Exzellenz gedeiht eine auf Medikamentenentwicklung konzentrierte Biotechnologie nur, wenn es Gesetze gibt, die die wirtschaftliche Nutzung grundlagenorientierter Forschung befördern und wenn risikofreudige Investoren Kapital investieren: Das Bayh-Dole Gesetz („Viagra der Hochschulinnovationen“, zitiert S. 41) und andere Gesetze schufen diesen legislativen Humus, auf dem die kleinen Biotech-Unternehmen in den USA gedeihen konnten. Reichlich sprudelndes Risikokapital sorgte dafür, dass diesen Medikamentenentwicklern nicht die finanzielle Puste ausging.

Schon Mitte der 80er Jahre erkannten US-Behörden, was den Europäern fehlte: Etablierte Pharma- und Chemieunternehmen (vor allem in Deutschland) zögerten bei Biotech-Investitionen, legislative und kulturelle Traditionen behinderten Risikokapital und junge Wissenschaftler konnten in starren Forschungssystemen kaum unabhängig forschen und kämpften gegen industrienegative Einstellungen. Unternehmen wie Roche, Ciba Geigy und Sandoz (später zu Novartis fusioniert), die früh schon Allianzen mit ‚Biotechs‘ schlossen, verdanken ihre starke Marktposition ihrer damaligen Weitsicht (S. 121ff.).

Auch US-Biotechs brauchten viel Zeit, Kapital und Glück

Was 1976 in den USA mit Genentech begann, hat sich heute zu einer Branche mit rund 400 börsennotierten Unternehmen entwickelt, deren Marktwert sich 2015 auf 850 Mrd. US-Dollar belief (S. 107). Im Rückblick wird klar, dass die US-‚Biotechs‘ reichlich Zeit und Kapital brauchten, ehe sie von der guten Kapitalmarkt-Stimmung in den Jahren 2013 und 2014 in ungeahnte Höhen katapultiert wurden. „Rund 20 Jahre nach Gründung der Industrie, 1998, lagen 200 der 300 börsennotierten Firmen mit ihrem Marktwert unter der Grenze von 100 Mio. US$“, schreibt Schüler (S. 114). Man kann das ruhig als aufmunternden Verweis auf die junge deutsche Biotech-Szene lesen.

Erwartungsgemäß nimmt die „rote Biotechnologie“ dort, wo sich Schüler dem kommerziellen Einsatz der Querschnittstechnologie widmet, den größten Raum ein. Schade nur, dass der unterschätzte Markt von Biotech-Arzneien für Tiere nicht abgehandelt wird. Wie lukrativ und milliardenschwer dieser Pharma-Bereich ist, deutete jüngst der öffentlich gemachte Tausch von Geschäftsfeldern der Konzerne Sanofi und Boehringer Ingelheim an.

Konzerne wie Boehringer Ingelheim setzen längst auf Biologika. Im Bild ist die aseptische Abfüllung von biopharmazeutischen Produkten dargestellt. © Boehringer Ingelheim

Die Passagen zu Biologika und Diagnostika wie auch der verdienstvolle Abriss neuer therapeutischer Trends (S. 143-253) seien jedem Laien als grundlegende Lektüre zur medizinischen Biotechnologie empfohlen. Hier schöpft die Autorin aus einer Vielzahl von Analysen den Rahm ab, ordnet, gewichtet und bilanziert mit Hilfe umfangreichen Zahlenmaterials. Hier belegt sie eindrucksvoll, warum Biotech-Medikamente herkömmlichen Arzneien den Rang streitig machen und was sie von diesen unterscheidet. Wichtig für das wirtschaftliche Verständnis der vorwiegend noch medizinisch geprägten Biotech-Industrie ist Schülers Exkurs zur Medikamenten-Entwicklung (S. 167-191), der zeigt, warum dieser Prozess hochriskant, langwierig und teuer ist.

Rot, weiß, grau oder gar grün?

Zwar dominiert die rote Biotechnologie Schülers Kompendium, doch auch die anderen Farben werden hinreichend abgehandelt. Die weiße Biotechnologie nimmt gerade den dritten Anlauf, das in der Chemie immer noch vorherrschende industrielle Paradigma der organisch-chemischen Synthese abzulösen, das anfangs auf Steinkohle, später auf Erdöl als Ressource zurückgriff. Ob ein Wechsel der Produktionstechnologie der Industrie besondere Erwähnung wert ist, sei dahingestellt. Noch beschränkt sich die fermentative Produktion von Grundchemikalien auf Alkohole und organische Säuren. Inwiefern die mikrobielle Biosynthese von Grundchemikalien wie Propandiol, Essigsäure oder Butanol und deren Folgeprodukten wie Ethylen oder Polymilchsäure die petrochemische Produktion wird ablösen können, hängt nach Expertensicht stark vom Preis für Rohöl und Zucker ab.

Auch die biotechnische Produktion von Kraftstoffen, sei es auf Basis von Agrarreststoffen, -abfällen, Algen, Cyanobakterien oder Synthesegas behandelt Schüler. Hier erfährt der Leser, was technisch versucht wird und schon machbar ist, ohne allerdings auf andere Mobilitätsansätze einzugehen. Industrielle Biotechnologie, wie die biotechnische Herstellung von Chemie-Produkten auch genannt wird, stößt in Mengendimensionen von Millionen Jahrestonnen vor, gerade bei Massenchemikalien. Hier erschöpft sich Schülers Überblick im Potentialis, nennt Prognosen, die Biopolymeren und Fasern (S. 285) dreistellige Milliarden-Umsätze versprechen. Dass die postfossile Zukunft schon begonnen hat, zeigen Listen zu Produktbeispielen und Firmen, deutschen wie ausländischen, die sich in der weißen Biotechnologie engagieren.

Vergleichsweise objektiv fällt die kurze, aber wesentliche Vorstellung der in Deutschland nicht gewollten Grünen Gentechnik aus, deren mögliche Rolle für eine biobasierte Wirtschaft aber auch hier nicht thematisiert wird. Etwas kurz geraten ist die Umwelt- bzw. graue Biotechnologie; allerdings vergisst die Autorin nicht, dass mit neuen Genome-Editing-Techniken wie CRISPR-Cas möglicherweise eine neue Basistechnologie entwickelt wird, über der momentan noch der Nebel eines gigantischen Medienrummels liegt.

Schwieriges Erwachsenwerden

Wie sich aus (offenbar immer noch) ungünstigen Rahmenbedingungen (S. 313ff.) in Deutschland dennoch eine KMU-geprägte Biotech-Industrie zu entwickeln begann, beschreibt die Autorin in den beiden Schlusskapiteln. Zwar erkennt Julia Schüler hoffnungsvolle Signale wie beispielsweise das Bill-Gates-Engagement für die Tübinger CureVac, dennoch wünscht sie der Branche weitere Erfolgsgeschichten, damit sie „Allgemeinheit und insbesondere Investoren“ besser wahrnehmen und nicht als schwach erscheinen lassen (S. 436f.). Symptomatisch, dass die Autorin wieder zum zuvor als untauglich erklärten Vergleich mit dem Vorbild USA greift. Womöglich erreicht die Branche diese Sichtbarkeit und Relevanz, wenn sie sich von Definitionsfragen verabschiedet und sich einer produkt- und ergebnisorientierten Sichtweise verpflichtet, ja womöglich schon getan hat. Sollte sich die Biotechnologie als Querschnittstechnologie etablieren, hätte Julia Schülers nächstes Buch reichlich neuen Stoff für diesen fortschreitenden Reifeprozess.

Literaturtipps:

Grüttner, Michael; Kinas, Sven: Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 55, (2007), Heft 1, URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2007_1.pdf

Stadler, Peter: Die Angst der Deutschen vor den Genen, in: Bio Deutschland 2004-2014, Jubiläumsjahrbuch, S. 56-66. http://wissenswort.com/download/141208Die_Angst_der_Deutschen.pdf

Seiten-Adresse: https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/rezension-die-biotechnologie-industrie