Biobasierte Materialien in der Architektur
Stroh ersetzt Plastik - die Material-Revolution
Die Stuttgarter Juniorprofessorin Dr.-Ing. Hanaa Dahy entwickelt mit ihrem Team am ITKE in Stuttgart alltagstaugliche, biobasierte Materialien mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten. Verwendet werden die Materialien etwa zur Wärmedämmung, für Designer-Möbel, Yogamatten oder federnde Turnhallenböden. Dabei soll das recycelbare, kompostierbare Material mit den vorhandenen Techniken der Kunststoffindustrie verarbeitet werden können.
Die Ägypterin Hanaa Dahy, Juniorprofessorin und Leiterin des Fachbereiches Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur am Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart entwickelt nachhaltige Materialien mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten.
© Gunther Willinger
Wäre es nicht toll, ein festes Material zu haben, das biologisch abbaubar, schwer entflammbar, flexibel und recyclingfähig ist? Und wenn dieses Material dazu noch zu 90 Prozent aus einem bislang fast ungenutzten Reststoff wie Weizenstroh bestehen würde? Unmöglich? – Nein! Denn die Ägypterin Hanaa Dahy, Juniorprofessorin und Leiterin des Fachbereiches Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur am Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart hat mit „BIOFLEXI“ genau so ein Material entwickelt.
Mehrere Preise hat der neue Verbundstoff aus kompostierbarem Plastik und Stroh schon gewonnen und gerade touren die Materialproben aus Stuttgart über Messestände in ganz Europa. Ob in Paris, Hannover, Amsterdam oder im schwedischen Jönköping: „Überall ist das Interesse riesengroß. Wir kriegen viele Anfragen, nicht nur aus der Industrie, sondern auch direkt von Verbrauchern; auch IKEA hat schon Interesse signalisiert“, freut sich Dahy.
Die Kairoer Architektin Hanaa Dahy kam 2009 mit einem Stipendium der Ägyptischen Regierung nach Stuttgart, um ihre Doktorarbeit zu machen. Damals musste sie innerhalb von sechs Monaten Deutsch lernen, aber sie ist sich sicher, dass sich die Mühen gelohnt haben: „Stuttgart ist für mich und meine Familie zur zweiten Heimat geworden, es ist ein wunderschöner Platz und ich schätze ganz besonders die enge Verknüpfung von Industrie und Forschung. Außerdem ist es ein Eldorado für Architekten, wir haben hier die größte Architekturfakultät Deutschlands und dazu viel Austausch zwischen Architekten, Bauingenieuren, Designern und Industrie auf engem Raum. Das ist sehr fruchtbar – für meine Forschungsarbeit gibt es weltweit keine bessere Region.“
Industrie-Know-how nutzen
Dahy ist es gelungen, vorhandene Herstellungsprozesse und Maschinen der Kunststoffproduktion wie die Extrusion „mit neuem Leben“, besser gesagt mit einem biobasierten, kompostierbaren Material zu füllen. Dabei wird ein Gemisch aus Biokunststoffen und Naturfasern, etwa kleingehäckseltem Stroh zu Pellets verarbeitet und in einem beheizbaren Zylinder zu einer zähen Rohmasse verflüssigt. Am Ende des Zylinders können je nach gewünschter Form verschiedene Werkzeuge montiert werden, durch die die Schmelze gepresst wird. Das Extrusions-Verfahren zur Kunststoffverarbeitung ist etabliert und weit verbreitet. Von Legosteinen über Fensterprofile bis hin zu Rohren oder Dämmplatten können damit verschiedenste Dinge hergestellt werden – Grundmaterial dafür sind aber bislang fast ausschließlich herkömmliche Kunststoffe, die aus Rohbenzin hergestellt werden. Das soll nun anders werden.
"Mir war es wichtig, die vorhandene Technik und das industrielle Know-how aus der Kunststoffverarbeitung zu nutzen. Bei der Suche nach einer geeigneten Naturfaser sind wir beim Stroh gelandet, denn es ist in Deutschland in großen Mengen vorhanden, es ist billig und wird bislang kaum industriell genutzt, sondern höchstens zur Energiegewinnung verbrannt“, erläutert Dahy. Stroh als Grundstoff vereint viele Vorteile in sich. Es ist ein jährlich nachwachsender Rohstoff, der nicht mit der Nahrungsmittelproduktion konkurriert, sondern weltweit in großen Mengen in der Landwirtschaft anfällt.
Interdisziplinäre Forschung mit Praxisbezug
„Das Problem bei Stroh ist seine niedrige Dichte, d.h. wir müssen ein riesiges Volumen Stroh mit einer kleinen Kunststoffmenge mischen, und dafür gab es bislang keine geeignete Lösung“, sagt Dahy. Zusammen mit dem Institut für Agrartechnik der Universität Hohenheim und dank neuartiger biobasierter Kunststoffe ist es der Forscherin gelungen, das Problem zu lösen und ein vielseitiges Material ohne gesundheitsschädliche Zusätze herzustellen, das recyclingfähig und kompostierbar ist. Es hat eine hohe Flexibilität und Festigkeit und kann durch die vorhandene Extrusionstechnik in praktisch jede beliebige Form gebracht werden. Das Material ist zudem deutlich schwerer entflammbar als erdölbasierte Kunststoffe. Ersetzt man Weizenstroh durch Reisstroh, das einen extrem hohen Silikatanteil hat, erfüllt das Material spielend selbst strengste Brandschutzanforderungen.
Überhaupt sind der Fantasie bei der Ausgestaltung des Verfahrens kaum Grenzen gesetzt, denn es können auch andere Naturstoffe eingesetzt werden. Dahys Studenten haben unter anderem Kokosfasern und sogar die Aschereste der letzten Grillparty verarbeitet und dadurch eine Vielzahl unterschiedlicher Strukturen und Farben erzeugt. Manche Materialien haben glatte, modern anmutende Oberflächen, manche eine raue oder eine wabenähnliche Struktur. Einige sind flexibel, andere starr. Manche können die Innenraumakustik optimieren, andere sehen aus wie eine herkömmliche Styroporplatte. Das Material kann mit einem dünnen Holzlaminat überzogen werden und durch seine Flexibilität und Formbarkeit praktisch jeden Designwunsch erfüllen. In der gerade begonnenen zweiten Entwicklungsphase von BIOFLEXI, die von der Universität Stuttgart gefördert wird, arbeitet Dahys Team mithilfe eines Chemikers an unterschiedlichen Rezepturen, um weitere Anwendungen zur Marktreife zu bringen.
Biobasierte Haussanierung
Materialmuster mit unterschiedlichen Oberflächen und Naturfasern am ITKE in Stuttgart
© Gunther Willinger
In einem weiteren Projekt namens PLUS arbeitet Dahy eng mit Florian Rapp vom Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT) in Karlsruhe zusammen. Die Fraunhofer-Forscher sind Spezialisten für biobasierte Schaumstoffe, sogenannte Biopolymerschäume. Ein Ziel der Kooperation ist die Entwicklung einer biobasierten Wärmedämmplatte zur Haussanierung. Dahy erklärt: „Eine geschäumte Platte haben wir bereits. Nun möchten wir noch Naturfasern in die Biopolymere integrieren, denn das senkt die Kosten und erhöht die Atmungsfähigkeit und den Feuerwiderstand des Materials.“ Die meisten bisher in Deutschland eingesetzten Dämmplatten sind aus Polyurethan oder Polystyrol und damit erdölbasiert, schwierig zu entsorgen und teuer. Eine biobasierte Dämmplatte könnte da gleich mehrere Probleme auf einmal lösen. Preislich werden die neuen, biobasierten Materialien laut Dahy vergleichbar mit herkömmlichen Produkten sein.
Raus aus der Ökonische, rein in den Markt
Dahy und ihre Doktoranden wollen biobasierte Materialien aus der Ökonische holen und gerade auch bei Architekten ein Umdenken anstoßen. So ermuntert sie ihre Studenten immer wieder, neue Perspektiven einzunehmen. Etwa die Projekte einmal ausgehend vom Material hin zum Design zu entwickeln, anstatt wie gewohnt in umgekehrter Reihenfolge. Und sie will weiter ganz nah an der Praxis bleiben: „Als Architekten sitzen wir immer in Büros, wir machen Planungen und Zeichnungen und fertig. Ich liebe aber das praktische Arbeiten und ich meine, wir haben eine große Verantwortung, unsere Forschung auch in die Praxis zu bringen.“