In ihrer Entscheidung kommt die Große Beschwerdekammer zum Schluss, dass im Wesentlichen biologische Verfahren, die sexuelle Kreuzungsschritte in Bezug auf das gesamte Genom beinhalten, sowie die darauf folgende Auswahl der daraus resultierenden Pflanzen durch die Züchter nach dem EPÜ nicht patentierbar sind. Auch die bloße Verwendung von technischen Verfahrensschritten zur Durchführung bzw. Unterstützung von Verfahren der sexuellen Kreuzung von Genomen von Pflanzen und der nachfolgenden Selektion der Pflanzen heben den Ausschluss von der Patentierbarkeit nicht auf. Technische Hilfsmittel wie genetische Marker können zwar an sich nach dem EPÜ patentfähige Erfindungen darstellen, ihre Verwendung in einem wesentlichen biologischen Züchtungsverfahren macht dieses aber nicht patentierbar. Die Große Beschwerdekammer führte schließlich aus, dass jedoch ein Verfahren zur Veränderung von Pflanzen mittels Einfügung von Merkmalen in ein Genom bzw. dessen Veränderung durch gentechnische Verfahrensschritte patentierbar sein könne, da es nicht auf sexueller Kreuzung ganzer Genome beruhe. Allerdings sollen in solchen Fällen Kreuzungs- und Auswahlverfahren nicht im Patent beansprucht werden, damit die Anwendung technischer Verfahrensschritte vor bzw. nach dem im Wesentlichen biologischen Kreuzungsvorgang nicht zu dessen Patentierbarkeit führe.
In ihrer Entscheidung nahm die Kammer ausführlich Bezug auf die Argumentation der in den "Brokkoli"- und "Tomaten"-Verfahren beteiligten Parteien (siehe unten), die Ausführungen des Präsidenten des EPA sowie die zahlreichen Stellungnahmen aus der Öffentlichkeit, welche die Kammer in der Form sogenannter "amicus curiae"-Briefe ereicht hatten. Die Kammer gab in ihrer 70seitigen Entscheidung auch einen ausführlichen Überblick über die Historie der Gesetzgebungsverfahren und des Fallrechts in Europa zum Thema, darunter auch über die Entwicklung der Biopatentrichtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rats in dieser Frage.
Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer hat die rechtliche Klärung des Begriffs der "im wesentlichen biologischen Verfahren" nach dem EPÜ zum Zweck. Eine erste konkrete Anwendung dieser Ausführungen wird durch die für den "Brokkoli"- und "Tomaten"-Fall zuständige Technische Beschwerdekammer erfolgen. Diese hatte auch das Vorlageverfahren an die Große Beschwerdekammer eingebracht. Eine weitere Konkretisierung für die Patentpraxis des EPA wird sich aus der Anwendung der Entscheidung in der Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern ergeben.
Zum Hintergrund der Entscheidung
In Artikel 53 b schließt das EPÜ Patente auf „Pflanzensorten oder Tierrassen" ebenso aus wie auf „im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren". Aufgrund dieser Formulierung hatte das Europäische Patentamt (EPA) die Technik der „marker-gestützten Selektion", bei der, neben konventionellen Züchtungsschritten, auch Marker-Gene zur Auswahl bestimmter Eigenschaften genutzt werden, als technisches und damit patentfähiges Verfahren betrachtet.
Auf dieser Basis erhielt die Firma Plant Bioscience im Jahre 2002 ein Patent (EP1069819) auf ein Auswahlverfahren, mit dem bei der Zucht von Brokkoli der Anteil eines bestimmten, vermutlich Krebs vorbeugenden Inhaltsstoffs in den Pflanzen erhöht werden kann. Bei dem Verfahren werden die dafür verantwortlichen Gene im Brokkoli-Erbgut ermittelt und mit sogenannten genetischen Markern (Markergenen) gekennzeichnet. Anschließend werden die Brokkolipflanzen, die den gewünschten Stoff in hoher Konzentration beinhalten, anhand der Markergene ausgewählt und in der Pflanzenzucht eingesetzt.
Das Patent wurde zunächst erteilt, obwohl dieses Verfahren auch konventionelle Züchtungsschritte enthält. Im April 2003 legte das Schweizer Unternehmen „Syngenta Participations AG" Einspruch dagegen ein. Aus Sicht dieses Mitbewerbers ist das patentierte Selektionsverfahren ein „im wesentlichen biologisches Verfahren" und damit gemäß EPÜ nicht patentierbar. Mittlerweile befindet sich dieser Einspruch im Beschwerdeverfahren vor einer Technischen Beschwerdekammer des EPA.
Ein ähnlicher Fall ist das Patent EP1211926: Das israelische Landwirtschaftsministerium meldete im Jahr 2000 ein Patent auf ein Zuchtverfahren von Tomaten mit geringem Wassergehalt und dessen Produkte an. Gegen die Patentierung legte das niederländische Unternehmen „Unilever N.V." im Jahr 2004 Einspruch ein und verlangte, aus denselben Gründen wie im Brokkoli-Verfahren, den Widerruf des Patents. Auch dieses Verfahren befindet sich vor der Beschwerdeinstanz des EPA.
Die für beide Fälle zuständige Technische Beschwerdekammer befand, dass zur Feststellung der Patentfähigkeit beider Anmeldungen zunächst die grundsätzliche Frage zu klären ist, wie der Begriff „im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzensorten und Tierrassen" zu verstehen sei. Im Jahr 2007 legte sie die Fragen der Großen Beschwerdekammer (GBK) des Europäischen Patentamts vor. Aufgrund der vergleichbaren Fragestellungen behandelt die GBK beide Fälle zusammen.
In diesem Verfahren fand am 20. und 21. Juli 2010 in München eine mündliche Verhandlung statt. Die Mitglieder der GBK befassten sich damit, ob die marker-gestützte Selektion ein biologisches Zuchtverfahren oder ein technisches Verfahren und damit patentfähig ist. Auch die Öffentlichkeit konnte sich mit schriftlichen Stellungnahmen zu er Frage äußern.
Die Patentierbarkeit von Pflanzen und Tieren wird durch die Entscheidung nicht berührt und stand auch zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion.
Maßgeblich für die Patentierungspraxis im Bereich Biotechnologie ist die 1998 verabschiedete EU-Richtlinie zum Schutz biotechnologischer Erfindungen, die u.a. die Patentfähigkeit von Pflanzen und Tieren grundsätzlich bejaht. Der Verwaltungsrat des EPO hat die Richtlinie in das EPÜ übernommen. Die Biopatentrichtlinie kann jedoch nicht alle Praxisfälle regulieren und definiert auch die Grenzen zwischen klassischer Züchtung, Kreuzung, Selektion und modernen Züchtungsmethoden mit biotechnologischen Mitteln nicht eindeutig.
Die Rolle des Europäischen Patentamts beschränkt sich auf die Überprüfung, ob eine Patentanmeldung eine neuartige und wirtschaftlich nutzbare technische Entwicklung ist, die auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht. Eine soziale, ökonomische oder ökologische Folgenabschätzung liegt nicht in seiner Kompetenz und Möglichkeit. Dies ist eine Aufgabe des Gesetzgebers bzw. der zuständigen europäischen und nationalen Regulierungsbehörden.