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Experteninterview

Götz T. Gresser: „Bei einem nachhaltigen Textil muss die gesamte Prozesskette nachhaltig sein“

Die Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung Denkendorf (DITF) sind das größte Textilforschungszentrum Europas. Die Entwicklung von nachhaltigen Produkten und Verfahren steht hier schon seit Jahren auf der Agenda und ist einer der Forschungsschwerpunkte. Prof. Dr.-Ing. Götz T. Gresser ist Vorstand und Sprecher der DITF und spricht über die Hintergründe.

Seit 2013 ist Prof. Dr.-Ing. Götz T. Gresser Vorstand der DITF und Leiter des Instituts für Textil- und Fasertechnologien (ITFT) an der Universität Stuttgart. © DITF

Was macht ein Textil aus Ihrer Sicht besonders nachhaltig, welche Eigenschaften muss es dafür aufweisen?

Der zentrale Punkt ist für mich, dass die Textilien einen biobasierten Ursprung haben. Bei besonders strenger Definition sollte von nachwachsenden Rohstoffen gesprochen werden. Die Materialherkunft allein reicht aus meinem Verständnis heraus jedoch nicht aus. Die Rohstoffe sollten auch nachhaltig verarbeitet werden, etwa beim Färben und Ausrüsten von Textilien. Wir wollen bei solchen Prozessen zum Beispiel weg von der Verwendung von Fluorcarbonen, die im Verdacht stehen, gesundheitsschädlich zu sein. Darüber hinaus sorgen textile Filter für eine umweltfreundliche und ressourcenschonende Reinigung und Rückgewinnung von Prozesswasser in der Industrie – und textile Abscheide- und Entfeuchtungssysteme sorgen für saubere Luft während der Produktion.

Bei den natürlichen Rohstoffen dominiert heute die Baumwolle das Feld. Sie macht einen Anteil von rund 25 Prozent der Weltproduktion von Fasermaterialien aus, die rund 100 Millionen Tonnen im Jahr beträgt. Auch Cellulose und Lignin werden zu Fasermaterialien versponnen. Zum Beispiel ist die nachhaltige Herstellung von Carbonfasern aus Cellulose oder Lignin an den DITF ein zentrales Schwerpunktthema. Dabei werden bei der Herstellung von Fasermaterialien aus Cellulose deutlich weniger Ressourcen wie Wasser verbraucht als bei Baumwolle. Der Prozess ist in dieser Hinsicht also nachhaltiger.

Was hat die DITF dazu bewogen, nachhaltige Textilien zu einem Schwerpunktthema in allen Forschungs- und Entwicklungsprozessen zu machen?

Hier wurden immer schon Naturfasern verarbeitet. Die Expertise zur Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen ist seit der Institutsgründung 1921 fester Bestandteil. In späteren Jahrzehnten erlebte Deutschlands Textilindustrie einen Wandel. In der modernen Textilherstellung für Bekleidung spielt der Rohstoff bei den Herstellungskosten nur noch eine untergeordnete Rolle. Dominierend ist das Nähen, worauf rund 50 Prozent der Herstellungskosten entfallen. Diese Arbeiten sind folglich in Länder mit geringeren Lohnkosten abgewandert.

Der Textilmaschinenbau ist inzwischen eine Hightechindustrie. Jede 4. Textilmaschine weltweit kommt heute aus Deutschland, aber nur jedes 10. Auto. Die deutsche Textilindustrie hat sich stark spezialisiert und ist bei technischen Textilien in Europa führend. Zirka 70 Prozent des Umsatzes in der Textilindustrie hierzulande wird heute mit technischen Textilien erarbeitet. Da ist es nur logisch, dass im Zuge der Bioökonomie-Strategien auch die Entwicklung nachhaltiger Fasern und Textilien, mit Schwerpunkt auf technischen Textilien, in Denkendorf verankert wird.

Innovative Textilstrukturen aus ummantelten Faserbündeln sorgen für eine bedarfsgerechte Bewässerung, die ohne Sensorik und Steuerungstechnik auskommt. Sie wurde zusammen mit dem Dochthersteller WEDO und der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf von den DITF entwickelt und in diesem Testfeld zur energieautarken Bewässerung erprobt. © DITF

Wie wird das konkret umgesetzt, welche Aspekte sind aus Ihrer Sicht besonders wichtig?

Wenn wir im Sinne der Nachhaltigkeit eine hundertprozentige Kreislaufwirtschaft erreichen wollen, geht das nur mit Rohstoffen, die wir in nachhaltigen Prozessen verarbeiten. Denkendorf ist insofern einzigartig in Europa, dass wir hier an allen Herstellungs- und Prozessstufen entlang der gesamten textilen Wertschöpfungskette rund um die Faser und das Textil forschen und entwickeln – auch an denjenigen, die für nachhaltige Lösungen wichtig sind. Ich halte es für außerordentlich wichtig, die gesamte Prozesskette zu beherrschen. Ebenso wichtig ist es jedoch, nachhaltig zu denken. Mitarbeiter, die beides beherrschen, sind für uns ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Nachhaltigkeit. Mit ihnen erschaffen wir die Plattform, um nachhaltige Lösungen für die Industrie zu entwickeln.

Die Denkendorfer Institute sind an der Schnittstelle zwischen Forschung und Anwendung angesiedelt. Sie arbeiten eng mit der Industrie zusammen, haben gemeinsame Projekte und machen auch Auftragsforschung für Unternehmen. Wie schätzen Sie aus dieser Position heraus die Nachfrage und Bedarfe an nachhaltigen Lösungen in der Textilbranche ein?

Ich denke, die gesamte Branche ist für das Thema inzwischen sensibilisiert. Revolutionäre Schritte findet man in der bestehenden Industrie jedoch selten. Hier haben wir es eher mit evolutionären Schritten in Richtung Nachhaltigkeit zu tun. Die Expertise muss auch erst wachsen. Ein Autobauer zum Beispiel hat nicht per se das Know-how, um in der Konstruktion mit nachhaltigen textilen Materialien zu arbeiten. Also wird er zunächst eher kleine Bauteile daraus fertigen. Außerdem stellt sich natürlich die Frage, was er mit seinen Kapazitäten und Kompetenzen in der Blechverarbeitung machen sollte, wenn plötzlich die gesamte Produktion umgestellt würde. Andererseits ist relativ schnell im gesamten Mobilitäts-Sektor der Bedarf an Leichtbau gestiegen – auch getriggert durch den Umstieg auf erneuerbare Energien beim Antrieb. Textile Werkstoffe eignen sich prinzipiell gut für den Leichtbau, und dabei sind zunehmend auch nachhaltige Lösungen gefragt. Neben dem Bereich Mobilität gewinnen nachhaltige textile Lösungen auch in Bau und Architektur an Bedeutung. Beispiele sind hier die Wärmedämmung, die Solarthermie oder energieeffiziente Fassadenbeschattungen.

In allen Branchen spielt auch der Kundenwunsch eine Rolle. Die Hersteller machen die Erfahrung, dass nachhaltige Produkte sich als verkaufsfördernd erweisen, und dadurch verstärkt sich der Trend. Dieser Trend wird auch vom Gründungssektor getragen. Hier tut sich einiges. Start-ups spezialisieren sich von vornherein auf nachhaltige Produkte und entwickeln dafür spezielle Herstellungsverfahren. Als DITF sind wir Ansprechpartner für alle Arten von Unternehmen und stehen ihnen mit unserer Expertise zu nachhaltigen Textilprodukten zur Seite.

Zur Nachhaltigkeit gehören auch lange Nutzungszyklen der Materialien im Sinne der Kreislaufwirtschaft. Wie kann das Rezyklieren bei textilen Verbundwerkstoffen gelingen, und ist das auch bei Smart Textiles, etwa mit Sensorfunktion, möglich?

Sensorfasern, also zum Beispiel leitfähige Fasern, können heute bereits zum großen Teil als Ganzes wiederverwertet werden. Das ist bei Verbundmaterialien schwieriger. An den DITF arbeiten wir vor allem an Lösungen, um rezyklierte Materialien wiederzuverwerten. Das heißt, wir gehen von den separaten Ausgangsstoffen aus. Wir entwickeln zum Beispiel Verfahren, um rezyklierte Carbonfasern aus Faserverbundwerkstoffen wieder zu Garn und zu einem Textil zu verarbeiten. Dieses kann dann wieder zu Produkten der Automobilindustrie verarbeitet werden.

In den gestrickten Latentwärmespeichern aus der Entwicklungsschmiede der DITF sind Sonnenkollektor und Wärmespeicher in einer Einheit untergebracht. Der textile Sonnenkollektor ist leicht und flexibel. © DITF

Wie wirtschaftlich ist die Herstellung und Verwendung von nachhaltigen Textilien heute schon und was muss in Zukunft noch verbessert werden, um entsprechende Produkte konkurrenzfähig zu machen?

Ein großes Potenzial sehe ich bei der nachhaltigen Herstellung von neuen Fasermaterialien darin, die Prozessschritte für die Herstellung von Textilien zu reduzieren. Zum Beispiel werden Verfahren entwickelt, die mit einer einzigen Maschine Garne herstellen und ein Textil stricken. So kann die Produktion insgesamt nachhaltiger werden. Bei der Prozessoptimierung geht es außerdem darum, weniger Ressourcen, etwa an Wasser und Energie, zu verbrauchen, um die gleiche Produktqualität zu erhalten. Auch bei der Substanzausnutzung kann an vielen Stellschrauben gedreht werden. Jedes Garn hat eine bestimmte Festigkeit, und diese Festigkeit mit dem Rezyklat wieder zu erreichen, ist eines unserer Forschungsziele. Wenn das gelingt, ist es ein großer Wettbewerbsvorteil. Auch die Digitalisierung ist ein Nachhaltigkeitsaspekt, der sich rechnet. Muster-Stoffe können virtuell hergestellt werden. Je mehr hier mit Simulationen gearbeitet wird, desto weniger Abfall und Ausschuss entsteht. Wir untersuchen, wie wir Prozesse miteinander verknüpfen können, um Abfall und 2. Wahl zu vermeiden. Als Kompetenzzentrum Mittelstand 4.0 zeigen wir KMUs, was heute digital möglich ist.

Insgesamt sind nachhaltige Textilien für mich ein Megatrend. Gerade im Bereich technischer Textilien wird es vielfältige neue Materialien und neue Verarbeitungsmethoden geben, um dem Bedarf gerecht zu werden. Das Thema eröffnet auch ganz neue Anwendungen und Absatzmärkte. Textile Mooswände sind ein Beispiel, bei dem erst das Textil die Möglichkeit einer effizienten Nutzung bietet. Die textile Matrix sorgt dafür, dass die Pflanzen mit der jeweils richtigen Menge an Feuchtigkeit versorgt werden – eine Grundvoraussetzung für die Funktion der Mooswände als Feinstaubfilter.

Neue Märkte entstehen im Übrigen nur, wenn auch das Mindset bei den Konsumenten dafür vorhanden ist. Ich denke, wir sind dank unserer Kaufkraft in Deutschland dazu bereit, mehr auszugeben für ein Produkt, das fair und nachhaltig produziert wird. Auch weltweit findet ein Wandel in diese Richtung statt. Die Nachhaltigkeit eines Produkts muss jedoch noch prüfbarer und nachvollziehbarer werden. Wir müssen die Glaubwürdigkeit nachhaltiger Produkte weiter erhöhen.

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