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Ausblick auf die Zukunft der Landwirtschaft

Landwirtschaft 4.0 – hochmodern und ohne schädlichen Pflanzenschutz

Die Nachfrage nach Bioprodukten steigt immer weiter, die Natur wird dabei auch noch geschont – warum wechselt man dann nicht komplett zum ökologischen Landbau? Die Antwort ist einfach: Weil es sich nicht alle leisten und bei gegenwärtigen Konsummustern auch nicht alle satt werden können. Ein Verbundprojekt forscht an einem alternativen Weg, einem Agrarsystem zwischen konventionell und ökologisch, das hohe Erträge ohne chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel erwirtschaften könnte.

Ein Mähdrescher, der ein Feld abmäht.
Im Projekt NOcsPS soll eine alternative Möglichkeit des Ackerbaus entwickelt werden, die zwischen konventioneller und ökologischer Produktion liegt. © Universität Hohenheim, Ingrid Claß-Mahler

Auch in der Landwirtschaft sind modernste Hightech-Verfahren schon längst angekommen: Feldroboter, im Labor optimierte Pflanzen oder der Einsatz von IT – auch als Landwirtschaft 4.0 bezeichnet – sollen dafür sorgen, dass die Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden kann, aber auch energetische und stoffliche Zwecke im Sinne der Bioökonomie zufriedenstellend berücksichtigt werden. Dabei setzt eine konventionelle Landwirtschaft im Ackerbau neben optimierten Saatgutsorten auch auf Dünge- und Pflanzenschutzmittel: Nicht sehr beliebt bei vielen Verbrauchern und schädlich für Natur und Artenvielfalt.

Die ökologische Landwirtschaft als Gegenpol dazu produziert umweltschonender, indem sie auf Mineraldünger und chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel weitgehend verzichtet. Dies kommt beim Kunden an: Der Umsatzanteil an Bioprodukten im deutschen Lebensmittel-Einzelhandel steigt stetig; beispielsweise wurden in 2019 fast 12 Mrd. Euro für Biolebensmittel ausgegeben.1 Obwohl solche Bioprodukte auch schon von vielen Discountern angeboten werden, beschränkt sich aber deren Verfügbarkeit weltweit gesehen auf eine sehr kleine, privilegierte Gruppe von Menschen: Manche von ihnen können sich die teureren ökologisch und aufwändiger erzeugten Produkte nicht leisten, viele andere haben überhaupt keinen Zugang zu ihnen.

Natürliche Nahrungsmittel zu bezahlbaren Preisen

Porträtfoto des Agrarwissenschaftlers
Prof. Dr. Enno Bahrs von der Universität Hohenheim koordiniert das Projekt NOcsPS © Universität Hohenheim

Ein guter Kompromiss, der ausreichend Nahrungsmittel zu einem bezahlbaren Preis bereitstellen und gleichzeitig die Umwelt schonen würde, könnte ein völlig neues Agrarsystem sein: ein alternativer Weg zwischen konventionell und ökologisch. An einer solchen Möglichkeit, „LaNdwirtschaft 4.0 Ohne chemisch-synthetischen PflanzenSchutz (NOcsPS)“ genannt, arbeitet seit Juni 2019 das gleichnamige Verbundprojekt, das von der Universität Hohenheim koordiniert wird und bei dem insgesamt 19 Teilprojekte bearbeitet werden. Weitere Projektpartner sind das Julius Kühn-Institut in Quedlinburg und die Georg-August-Universität Göttingen. Die Forschungsarbeiten sollen 4,5 Jahre dauern und werden vom BMBF mit knapp 5,3 Mio. Euro gefördert. Außerdem wird der Verbund von vielen Unternehmen in den unterschiedlichsten Bereichen wie Produktion, Verarbeitung oder auch Beratung unterstützt.

„Aus dem Projekt soll eine Landwirtschaft entstehen, die modernste automatisierte und digitalisiert vernetzte Technologien einsetzt, aber auch gleichzeitig biologischen Prinzipien folgt“, erklärt der Sprecher des Forschungsverbunds, Prof. Dr. Enno Bahrs, Leiter des Fachgebiets für Landwirtschaftliche Betriebslehre an der Universität Hohenheim. „Dabei will man durch den umweltgerechten Einsatz von mineralischem Dünger hohe Biomasseerträge mit qualitativ hochwertigen Produkten und eine gute Bodenfruchtbarkeit erreichen. Daraus entstehende Produkte könnten dann zu Preisen erhältlich sein, die zwischen konventionell und ökologisch produzierten Produkten liegen.“

Modernen Ackerbau aus allen Perspektiven betrachten

Die Wissenschaftler wollen im Projekt das neue Anbausystem von möglichst vielen Seiten betrachten: auf Pflanzen-, Parzellen-, Feld-, Betriebs- und Landschaftsebene ebenso wie aus ökologischer, ökonomischer und sozialer Perspektive sowie auch im Vergleich zu anderen Anbausystemen. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette berücksichtigt, die von der Züchtung der Pflanzen über das Management von Resistenzen und Schadorganismen bis hin zur Betriebswirtschaft oder der gesellschaftlichen Wahrnehmung reicht.

Verschiedene Parzellen mit reifem Getreide
Die Wissenschaftler betrachten das neuartige Anbausystem aus den verschiedensten Perspektiven von der Pflanzen- bis hin zur Feld- und Landschaftsebene. © Universität Hohenheim, Ingrid Claß-Mahler

Die konkreten Labor- und Feldversuche sind vielfältig: So sind Gefäßexperimente ebenso wie Befragungen oder Betriebsanalysen geplant. Der aktuelle Stand der Forschung nimmt je nach Teilprojekt verschiedene Formen an: „Das Projekt ist so aufgebaut, dass nicht alle Arbeitsgruppen gleichzeitig starten“, sagt Bahrs. „Es handelt sich meist um Dreijahresprojekte in einem Vierjahresrahmen. Beispielsweise haben Befragungen zur Akzeptanz oder die Umsetzung des Versuchsaufbaus auf den Versuchsstationen – das heißt, die Umstellung auf NOcsPS-Anbausysteme - gleich im vergangenen Jahr begonnen. Andere Teilprojekte wie die Schädlingskontrolle ohne chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel oder der ökologische Vergleich der verschiedenen Anbausysteme werden erst im Frühjahr 2021 gestartet. Dabei versuchen wir in der Koordinierungsstelle, möglichst alle Fäden zusammenzuführen und zwischen Wissenschaft und Praxispartnern zu vermitteln. Die einzelnen Institute sollen aber möglichst autark arbeiten können.“

Smart Farming ersetzt schädliche Pflanzenschutzmittel

Ein Traktor mit angehängter schwarzer Hacke fährt durch Sojapflanzen
Einsatz einer kameragesteuerten Hacke in einem Sojafeld. © Universität Hohenheim, Ingrid Claß-Mahler

Wie sich das neue Anbausystem ohne chemische Pflanzenschutzmittel, aber mit Mineraldünger auf die Umwelt auswirkt, soll sich im Lauf des Projekts zeigen. Dazu werden die Folgen auf Schaderreger, Unkraut und den Ertrag ebenso untersucht wie die Wirkung auf bestäubende Insekten oder die Bodenqualität. Ein zentraler Aspekt ist hierbei der Einsatz von modernsten digitalen, automatisierten Verfahren der Informationstechnologie - Smart Farming genannt, die bis hin zum Einsatz von künstlicher Intelligenz reichen. Beispiele hierfür sind die Unkrautbekämpfung durch automatisierte und digital unterstützte Hacktechniken, die die chemischen Pflanzenschutzmittel ersetzen sollen oder ähnliche Methoden für Saattechniken beziehungsweise zum Aufbringen von Dünger. „Die IT ist Part unserer Partner“, berichtet der Professor. „Ob daraus am Ende wirklich ein Ansatz von künstlicher Intelligenz wird, wird sich zeigen. Das lässt sich aus heutiger Sicht noch nicht sicher sagen. Es ist aber auf jeden Fall ein erstrebenswertes Ziel unseres Großprojekts.“

Als Agrarsystem der Zukunft bildet NOcsPS mit seinen einzelnen Arbeitsgruppen und Projektpartnern alle Dimensionen ab, die in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs) genannt werden. Dazu gehören im Einzelnen die Ziele „Kein Hunger“, „Gesundheit und Wohlergehen“, „Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen“, „Nachhaltiger Konsum und Produktion“ ebenso wie „Maßnahmen zum Klimaschutz“ oder „Leben an Land“. „Unser alternatives Pflanzenproduktionssystem wird die bislang stark zweigeteilten Märkte – konventionell und ökologisch – stärker zusammenführen und sich als neues Agrarsystem mit hohem Anpassungspotenzial an zukünftige Rahmenbedingungen entwickeln“, meint Bahrs. „Und sie können so eine nachhaltige Produktion von Lebensmitteln und nachwachsenden Rohstoffen sichern. Dies ist insbesondere im Sinne der Nachhaltigkeitsziele ein großer Gewinn.“

Literatur:

(1) Branchen-Report 2020 Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft: https://www.boelw.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Zahlen_und_Fakten/Broschüre_2020/BÖLW_Branchenreport_2020_web.pdf

Seiten-Adresse: https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/landwirtschaft-40-hochmodern-und-ohne-schaedlichen-pflanzenschutz