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urban BioÖkonomieLab

Die Stadt als Reallabor für einen bioökonomischen, zukunftsfähigen Wirtschaftsraum

Beim Übergang zu einer klimaneutralen und zukunftsfähigen Wirtschaftsweise geht Baden-Württemberg voran. Für die nachhaltige Gestaltung von Städten und kommunaler Industrie entwickelt das Fraunhofer IGB mit „urban BioÖkonomieLab“ ein Transformationsmodell und Reallabor. Das Neuartige: Die biobasierte und kreislauforientierte Wertschöpfung, bei der Biomasse und CO2 in Abwasser, Abfall und Abluft als Rohstoffe dienen, erfolgt systemisch. Immer mehr Stakeholder interessieren sich für den ganzheitlichen Ansatz.

Städtische wie ländliche Regionen stehen vor enormen Herausforderungen: Bis 2030 sollen in Baden-Württemberg klimaschädliche Emissionen um 65 Prozent (gegenüber 1990) reduziert und bis 2040 Treibhausgasneutralität erreicht werden. Dieses ambitionierte Ziel erfordert tiefgreifende Maßnahmen der einzelnen Sektoren: von Industrie, Abfall- und Energiewirtschaft über Verkehr und Gebäude bis hin zur Landwirtschaft.

Von der Landesregierung wurde deshalb die Strategie „Nachhaltige Bioökonomie für Baden-Württemberg“ ausgearbeitet, um den Wandel zu einer auf erneuerbaren und biologischen Ressourcen beruhenden Wirtschaft zu ermöglichen. Ein innovatives Projekt ist das BioÖkonomieLab, bei dem das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB als Koordinator wirkt. Nicht von ungefähr – die Bioökonomie ist ein Herzensthema der Forschenden des Instituts mit Hauptsitz in Stuttgart, mit einem Fokus auf ungenutzte Wertschöpfungspotenziale.

Rohstoffeffizientes Wirtschaften für gute Lebensgrundlagen und einen starken Wirtschaftsstandort

„Abwasser, Abfälle und Abgase – die Stadt mitsamt ihrem industriellen Umfeld beherbergt wertvolle ungenutzte Reststoffe, die sich mit bioökonomischen Verfahren als Rohstoffe für neue Produkte nutzen ließen.“ So fasst Dr. Ursula Schließmann, stellvertretende Institutsleiterin und Koordinatorin des Geschäftsfelds Umwelt und Klimaschutz am Fraunhofer IGB, den Grundgedanken zusammen, der zum rohstoffeffizienten Wirtschaften führen soll und damit die natürlichen Lebensgrundlagen schützen und den Wirtschaftsstandort stärken kann.

„Die Landesstrategie „Nachhaltige Bioökonomie" leistet aktive Beiträge und entwickelt Technologien und Geschäftsmodelle, die zur Umsetzung der nachhaltigen Ziele beitragen“, beschreibt Dr. Marius Mohr vom IGB die Geburtsstunde innovativer Projekte, so auch des urban BioÖkonomieLab. Gefördert wird es durch das Umweltforschungsprogramm BWPLUS1). „Es wird angestrebt, Baden-Württemberg zu einer Leitregion für biobasiertes, kreislauforientiertes Wirtschaften zu machen“, so Mohr, der am IGB das Innovationsfeld Wassertechnologien und Wertstoffrückgewinnung leitet.

Systemischer Ansatz mit industriellen Rohstoffen

Raum mit Vortragsredner und Beamer vor Zuhörern auf roten Stühlen
Urbane Bioökonomie in Baden-Württemberg: Vernetzungstreffen am Fraunhofer IGB im Februar 2023 © Fraunhofer IGB

Mit urban BioÖkonomieLab werden erstmals ein Transformationsmodell und ein Reallabor entwickelt mit dem Ziel, bioökonomische Lösungen für die nachhaltige Gestaltung von Städten und kommunaler Industrie zu finden. „Bisher wurden nur einzelne bioökonomische Prozesse untersucht und weiterentwickelt, um eine klimaneutrale Wirtschaft auf Basis des erneuerbaren Rohstoffs Biomasse voranzutreiben“, erklärt Mohr. „Die Umsetzung industrieller Reststoffe mit biotechnologischen Verfahren in einem systemischen Ansatz, der ganzheitlich gestaltet ist, gibt es bislang jedoch nicht.“ Das soll sich nun mit urban BioÖkonomieLab ändern. Das Besondere: Die biobasierte Wertschöpfung soll zu einem großen Teil im System selbst erfolgen. Mit den großen Playern Biomasse und CO2 – Rohstoffe, die in Abwasser, Abfall und Abluft vorkommen.

Dafür arbeitet das IGB mit urban geprägten Pilotregionen in Baden-Württemberg sowie lokalen Unternehmen und Behörden zusammen. In Netzwerkinitiativen beteiligten sich Akteure aus Kommunen, Politik, Wissenschaft und Industrie, um Erfahrungen auszutauschen. „Stakeholder in den betrachteten Regionen werden durch Workshops und Interviews einbezogen“, so Mohr. „Ihre Sichtweisen und Wünsche können so in die Vorschläge für eine Transformations-Roadmap sowie die darin enthaltenen Maßnahmen eingehen. Zudem werden Perspektiven im Rahmen der urbanen Bioökonomie aufgezeigt. Gemeinsam kann auch eine Finanzierung von identifizierten Maßnahmen organisiert werden.“

In Hinblick auf gesellschaftliche Akzeptanz ergänzt Schließmann einen wichtigen Punkt: „Historisch trennt der Mensch zwischen Abfallströmen und Nahrungskette. Aus hygienischen Gründen war das sinnvoll. Technologien, die den Umweg über die Natur – also Gewässer und Boden – abkürzen, müssen diesen „Tabubruch" positiv kommunizieren. Die Innovationen müssen praktikabel, d. h. von der Bevölkerung ohne erheblichen Mehraufwand in den Alltag integrierbar sein.“

Neuartiges Konzept als Modell für weitere Regionen

Doch wie gelingt die Transformation zu einer nachhaltigen bioökonomischen Wirtschaftsweise? „Im Projekt wird die BioÖkonomieLab-Methode entwickelt und auf Pilotregionen angewendet. Eine erfolgreiche bioökonomische Transformation in diesen Regionen kann später eine Vorbildwirkung entfalten und somit als Modell gesehen werden“, so Mohr. Mit den urban geprägten Pilotregionen wird analysiert, wo die Potenziale für den Einsatz einer nachhaltigen Bioökonomie vor Ort liegen. Das kann z. B. die Rohstoffgewinnung in Klär-, Abfall- oder umliegenden Industrieanlagen betreffen sowie Maßnahmen zur Nutzung dieser Ressourcen, etwa für die Herstellung von Dünger, Kunststoffen und Wasserstoff. Gleichzeitig liefert das IGB inhaltliche Vorschläge, um bioökonomische Prozesse, Materialien und Produkte in die urbane und industrielle Realität zu überführen – in Form von geschlossenen Kreisläufen.

Die Methodik in fünf Schritten

Im Projektvorhaben entwickeln die Forschenden des IGB ihre bereits bewährte CityLab®-Methodik weiter. Sie ermöglicht es, alle urbanen und industriellen Bereiche im Hinblick auf bioökonomische Stoffströme zu analysieren und Handlungsfelder zu identifizieren. Der Hauptfokus richtet sich auf die Sektoren Abfall und Ressourcen, Abwasser, Energie, Industrie, Verkehr und Verwaltung. Mit Blick auf Stoffströme der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugnisse einerseits und der Nährstoffe und organischen Reststoffe andererseits sollen zudem Schnittstellen zum ländlichen Raum betrachtet werden.

Die Methode erfolgt in fünf Arbeitsschritten: Der ersten Analyse anhand von Fragen zu Indikatoren und Parametern folgt eine Bewertung der identifizierten Handlungsfelder und eine Sensitivitätsuntersuchung der lokalen Einflussfaktoren. Auf Basis von Interviews mit Stakeholdern und Vor-Ort-Besichtigungen arbeiten die IGB-Forschenden strategische Maßnahmen aus und priorisieren diese. In der letzten Stufe werden die Maßnahmen zu Clustern zusammengefasst und in eine Roadmap überführt, die den Beteiligten als Grundlage für das weitere konkrete Vorgehen dient.

Erprobte Bewertungsmethodik für den deutschland- und weltweiten Einsatz

Grafik mit einem Kreis, in dessen Zentrum Symbole zu einem Haus, einer Pflanze mit einem Kreislaufsymbol, einem Balkendiagramm und ein Chemiegefäß mit einem Kreislaufsymbol stehen und mit „urban BioökonomieLab“ beschriftet sind. Das Zentrum umgeben kreisförmig 5 Symbole mit Kreislaufpfeilen: Wirtschaft und Industrie, Energie, Wasser- und Kreislaufwirtschaft, Umwelt, Bevölkerung und Regierungsführung.
Urbane und industrielle Sektoren nach der BioÖkonomieLab-Methode © Fraunhofer IGB

Für die Bewertungsmethodik kann das IGB auf eine langjährige Erfahrung zurückgreifen: Seit mehreren Jahren engagiert sich das Team unter Leitung von Mohr weltweit in der Weiterentwicklung lokaler Stoffstromschließung im Rahmen von Projekten des Fraunhofer CityLab®, etwa um die Herausforderungen im Bereich Wassermanagement zu meistern. Auch ist die aktive Vernetzung förderlich. So ist der IGB-Institutsleiter Dr. Markus Wolperdinger Co-Vorsitzender des Beirats „Nachhaltige Bioökonomie" der Landesregierung Baden-Württemberg, stellvertretender Vorsitzender des Bioökonomierats der Bundesregierung und Vorsitzender des Fraunhofer-Verbunds Ressourcentechnologien und Bioökonomie.

Im Projekt urban BioÖkonomieLab sind exemplarisch drei Ballungsräume untersucht worden: Stuttgart, Mannheim und Karlsruhe. Im ausgewählten Ballungsraum Stuttgart wird die entwickelte Methodik validiert und weiter angepasst. Bei den beiden anderen wird die Methode anschließend eingesetzt, um die Übertragbarkeit der Methodik aufzuzeigen. „Das Projekt wird 2024 abgeschlossen und einen erheblichen Beitrag zur Vernetzung der Akteure in Baden-Württemberg geleistet haben“, gibt Mohr einen Ausblick. „Die erprobte Bewertungsmethodik steht Regionen, die Bioökonomieregionen werden wollen, deutschland- und weltweit zur Verfügung.“

Und der Wunsch für die Zukunft? „Langfristig ist es der Wunsch nach lebenswerten, vielfältigen Städten und Industriestädten, die sich in ökologische Kreisläufe einbinden und im Einklang mit der Natur sind. Somit wandeln sich Städte von Nährstoffsenken und Orten, an denen die Natur zurückgedrängt wurde, zu Knotenpunkten der Kreislaufwirtschaft und zu Biodiversität-Hotspots. Kurzum, zu Orten, an dem sich Menschen wohlfühlen und Luftverschmutzung, Lärm und Rohstoffverschwendung der Vergangenheit angehören“, so Mohr.

Fußnote:

1) BWPLUS – Baden‑Württemberg Programm Lebensgrundlage Umwelt und ihre Sicherung« des Landesministeriums für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft, https://um.baden-wuerttemberg.de/de/umwelt-natur/umwelt-und-energieforschung (Abrufdatum: 27.11.2023)

Seiten-Adresse: https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/die-stadt-als-reallabor-fuer-einen-biooekonomischen-zukunftsfaehigen-wirtschaftsraum