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Biobasierte Baumaterialien

Chitin für nachhaltige Bau- und Werkstoffe

Biegsam und robust, leicht und stabil – das klingt nach einem idealen Werkstoff für den Bau und viele andere Industriezweige. Wie die naturgegebenen, guten Eigenschaften von Chitin dafür genutzt werden können, untersucht ein Team der Universität Stuttgart.

Am Anfang stand ganz allgemein die Suche nach biologischen, nachwachsenden und nachhaltigen Rohstoffen. Dabei rückte recht schnell das nach Cellulose zweithäufigste Biopolymer der Erde in den Fokus des Stuttgarter Teams: Chitin. „Das extrem vielseitige Chitin ist zum Beispiel Bestandteil der nur schwer zu knackenden Hummerschalen. Auf der anderen Seite ist es als Strukturmolekül an etwas so Zartem wie einem Insektenflügel oder an der weichen Hülle von Mehlwürmern beteiligt. Und auch bei Pilzen und Kieselalgen ist Chitin zu finden“, sagt Prof. Dr. Sabine Laschat, Professorin für Organische Chemie an der Universität Stuttgart. Mit einem Forschungsteam aus sechs Instituten und den verschiedensten Disziplinen von den Naturwissenschaften über die Werk- und Baustoffkunde bis hin zu nachhaltigen Bausystemen will sie mit Chitin die Basis für neuartige und nachhaltige Werkstoffe und Baumaterialien schaffen.

Chitinfluid – Chitin als Ressource für multifunktionale Werkstoffe via wasserbasierter komplexer Fluide

Die Farbaufnahme zeigt die Mitglieder des Chitinfluid-Teams, das sich versetzt auf einer Betontreppe aufgestellt hat.
Das Chitinfluid-Team sowie der Rektor der Universität Stuttgart, Prof. Dr.-Ing. Wolfram Ressel, beim Kick-off-Meeting am 16. September 2020. Hintere Reihe (v.l.n.r.): Ingrid Weiss, Frank Giesselmann, Wolfram Ressel, Thomas Sottmann und Harald Garrecht. Vordere Reihe: Hanaa Dahy, Helen Hein (IWB), Sabine Laschat, Linus Stegbauer. © Universität Stuttgart/Institute

Das Vorhaben hat auch die Carl-Zeiss-Stiftung überzeugt. Ab Januar 2021 wird sie es im Rahmen des Programms „Perspektiven“ über vier Jahre hinweg mit bis zu zwei Millionen Euro fördern. Eine der größten Herausforderungen lauert dabei gleich zu Beginn des Projekts: Die Forscher müssen einen Weg finden, Chitin in Lösung zu bringen. Davon ausgehend soll es weiterverarbeitet werden. „Wir können Chitin nicht thermisch aufschmelzen, da das Polysaccharid dadurch zerstört würde. Zerkleinert ergibt Chitin zwar ein Granulat, aber dieses lässt sich nicht wie gewünscht modifizieren“, erklärt Laschat. Das Material macht es den Forschenden wirklich nicht leicht: „Wir haben es hier mit Polymerketten zu tun, die über extrem feste Wasserstoffbrücken miteinander verbunden sind. Zudem bildet es eine Überstruktur aus Fibrillen und Helices.“ Wie diese mehrfache Ordnung aufgebrochen beziehungsweise hergestellt werden kann, ist das Chitin-Geheimnis, das die Gruppe lüften will.

Dafür geht das Team zunächst einen Schritt zurück in die Grundlagenforschung und schaut sich an, wie die Natur das macht. Ein geeigneter Modell-Organismus dafür sind Diatomeen, auch Kieselalgen genannt. Sie produzieren Chitin-Fäden, über die sie miteinander verbunden sind. „Kieselalgen sind relativ einfach in Meerwasser zu halten und dienen uns als Untersuchungsobjekt. Strukturelle Informationen – von kleiner einem Nanometer bis in den Submillimeter-Bereich – wollen wir unter anderem mit der Hochleistungs-Elektronenmikroskopie und einem aus Projektmitteln zu beschaffenden extrem leistungsfähigen Röntgenstreusystem erhalten. Mit chemischen Experimenten wollen wir verstehen, wie die Biosynthese des Chitins funktioniert und beeinflusst werden kann“, so Laschat. Natürlich haben sie und ihre Kollegen schon eine ganze Reihe Anhaltspunkte zusammengetragen. Die Forschung der nächsten Jahre wird zeigen, ob sie damit richtig liegen. Eine wichtige Spur, die verfolgt wird, ist der Einsatz ionischer Lösungsmittel und die Überführung des gelösten Chitins in Hydrogele.

Dank Chitin: Leichtbeton der nachhaltigen Art

Chitin-haltige Hydrogele sind eine sehr spannende Form wasserbasierter, komplexer Fluide, denn sie könnten zu Werkstoffen mit ganz unterschiedlichen, steuerbaren Eigenschaften verarbeitet werden. Und genau das macht sie für den Bausektor so interessant. Das Forscherteam will sie unter anderem mit Beton kombinieren. Angedacht sind sowohl Schicht- als auch Porensysteme, bei denen zum Beispiel Betonporen mit Chitin-basierten Schäumen verfüllt werden. „In herkömmlichen Verbundbaustoffen wird Beton häufig mit polymeren Schäumen kombiniert. Diese können jedoch nur schwer recycelt werden und belasten die Umwelt. Unsere biobasierten Fluide und daraus hergestellte Schäume sollen die gleichen Werkstoffvorteile bieten, sich aber einfach durch natürliche mikrobielle Enzyme abbauen lassen“, sagt Laschat. Im Rahmen des Projekts will das Team Prototypen solcher spezieller Verbünde aus Chitin-Schaum und Beton oder auch monolithische mineralisierte Schäume auf Basis von mineralischen Bindemitteln und Chitin vom Kilo- bis zum Tonnenmaßstab herstellen und testen. Mögliche Einsatzzwecke sind zum Beispiel die Wärme- und Schalldämmung. Auch an anderer Stelle könnten Chitin-basierte Materialien ihre Stärken ausspielen. Da sie nicht nur leicht und robust, sondern auch hydrophob, also wasserabweisend sind, könnten sie in der äußeren Hülle von Gebäuden und auch von Fahrzeugen zum Einsatz kommen. Auch die Entwicklung von photonischen Chitin-Materialien als Ersatz von Effektpigmenten hält das Team für machbar.

Die zusammengesetzte Abbildung zeigt ganz links ein Foto eines Chitin-Panzers der Krabbe, in der Mitte übereinander eine grafische Darstellung vernetzter Polymerfäden und darunter ein Foto eines weißlich-glibberig wirkenden Hydrogels. Rechts folgt ein Foto mit drei Prototypen von Chitinwerkstoffen. Dunkle Chitinschichten liegen hier kleinen, rechteckigen, weißen Blöcken aus Trägermaterial auf. Alle drei Bildteile (links, Mitte, rechts) sind von links nach rechts durch blaue Pfeile miteinander verbunden.
Am Beispiel des Chitin-Panzers einer Krabbe ist hier die Prozessierung von Chitin-Werkstoffen schematisch dargestellt. © Universität Stuttgart/Institute

Da Herstellung, Verwendung und Entsorgung herkömmlicher Verbundbaustoffe durch ihre Umweltproblematik immer aufwendiger und dadurch teurer werden, werden nachhaltige Lösungen im Gegenzug immer wirtschaftlicher. Den bioökonomischen Nutzen der Chitin-basierten Neuentwicklungen genauer zu untersuchen, steht mittelfristig durchaus auf der Agenda der Stuttgarter Gruppe. „Selbst wenn wir mit Chitin-basierten Materialien nur minimale Veränderungen hin zu mehr Nachhaltigkeit im Bausektor erreichen, kann das insgesamt einen großen Effekt ausmachen“, ist Laschat überzeugt. Schließlich sei der Bausektor für 40 Prozent des globalen Energieverbrauchs, für 35 Prozent des CO2- und 45 Prozent des globalen Ressourcenverbrauchs verantwortlich, so die Wissenschaftlerin.

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